Der Wiener Mathematiker, Physiker und Philosoph wurde gestern Abend im Rathaus von der Ärztekammer
für Wien ausgezeichnet
Wien (rk) - Walter Thirring feiert am 29. April seinen 85. Geburtstag und sprüht immer noch vor geistreichen
Überlegungen über Gott und die Welt. Er zählt zu den bedeutendsten österreichischen Naturwissenschaftern
der Gegenwart und hat die moderne Physik, insbesondere die Quantenphysik, stark beeinflusst. Er traf in Princeton
Albert Einstein persönlich, forschte unter anderem an den Universitäten in Wien und Bern sowie am europäischen
Forschungsinstitut für Teilchenphysik CERN in der Schweiz. Trotz dieses beeindruckenden Lebenslaufs gilt Thirring
als bescheiden und nachsichtig. Auf ersteres weist auch der Titel seines bisher letzten Buches "Ein barfüßiger
Gelehrter erinnert sich" hin, das eine Art Lebensrückblick darstellt. Dem zweiten Attribut wurde Thirring,
im Rahmen der diesmal von philosophischen Fragen geprägten Wiener Vorlesung am Abend des 03.04. gerecht. Diese
leitete er mit den Worten ein: "Machen Sie sich nichts daraus, wenn Sie nicht alles verstehen, es geht mir
genauso". Dabei stellte er sich bemerkenswert darauf ein, dass ihm im gut gefüllten Festsaal des Wiener
Rathauses "Normalsterbliche" zuhörten und keine ausgebildeten Physiker, Philosophen oder Theologen.
Als solcher wurde er von der Jury des Watzlawick-Ehrenrings bezeichnet und wählte daher eine Bibelstelle aus
dem Johannes-Evangelium, an der Pontius Pilatus von Jesus wissen wollte, was denn die Wahrheit sei. Diese Frage
schlug für Thirring die Brücke zu Paul Watzlawick, der wiederum fragte, wie wirklich die Wirklichkeit
ist. Thirrings Antwort auf Pilatus war am Ende: "Die Wahrheit ist etwas, das auch in 2.000 Jahren seine Richtigkeit
hat. Aber das konnte Jesus freilich nicht antworten.
Spannende Wanderjahre eines Gelehrten
Walter Thirring ist sich immer der Tatsache bewusst, dass Wissenschafter ständig mit der Frage nach der
wirklichen Wirklichkeit konfrontiert sind, an die sie sich aber nur stückweise heran tasten können. Besonders
seine "Wanderjahre" zeugen davon. "Als junger Mann arbeitete er unter Albert Einstein, Erwin Schrödinger,
Werner Heisenberg und Wolfgang Pauli. Er leistete Pionierarbeit in der Quantenfeldtheorie, schrieb das erste Lehrbuch
über Quantenelektrodynamik und ein maßgebendes Werk zur Mathematischen Physik. Walter Thirring ist der
bedeutendste österreichische Gelehrte auf dem Gebiet der Theoretischen Physik", so die Begründung
der Jury des Paul Watzlawick-Ehrenringes der Ärztekammer für Wien, die Walter Thirring einstimmig zum
nunmehr fünften Preisträger gekürt hat. In den Jahren zuvor wurden der Architekturexperte Friedrich
Achleitner,der Kulturphilosoph Rüdiger Safranski, die Kulturanthropologin Aleida Assmann und der Soziologe
Peter L. Berger mit dem Ehrenring der Wiener Ärztekammer bedacht. Für die Stifterin ist es "Zeichen
unseres Engagements für den Dialog zwischen Medizin und Ethik, und eine Humanisierung der Medizin". Der
Paul Watzlawick Ehrenring wird alle zwei Jahre vergeben und ist eine der renommiertesten Wissenschaftsauszeichnungen
im deutschen Sprachraum.
"Ein Vorbild für alle"
Walter Dorner, ehemaliger Präsident der Wiener Ärztekammer, betonte seine tiefe, persönliche
Freude über den Ehrenring-Preisträger 2013: "So wie sich Walter Thirring Gedanken über die
Schöpfung und die Geheimnisse des Schöpfers macht, so müssen wir Ärzte uns überlegen,
was wir wie tun und welche Erkenntnisse wir der Menschheit geben können." Vor allem beeindruckten Dorner
"Thirrings tiefer theologischer Ansatz, seine Humanität und die Schärfe seiner naturwissenschaftlichen
Erkenntnis: Ein Diagnostiker, wie er auch für uns Ärzte ein Vorbild ist." Im Geiste Paul Watzlawicks,
des großen österreichischen Psychoanalytikers und Kommunikationswissenschafters werden damit herausragende
Wissenschafter ausgezeichnet, die über "den Tellerrand der Disziplinen hinaus denken, sich in ihrem Leben
für eine humane Gesellschaft einsetzen und Forschung und Wissenschaft an ein breites Publikum mitteln können."
Eine Brücke zwischen diesen beiden bedeutenden Denkern, die "Vorbilder für uns alle und die nächste
Generation sind", schlug auch Laudator Helmut Rauch, seines Zeichens Kernphysiker. Thirring habe die Mathematische
Physik als Disziplin etabliert und versucht, mit rein mathematischen Mitteln unsere Existenz verständlich
zu machen. Aber Thirring habe auch, ebenso wie Watzlawick, seine Ideen effizient und verständlich kommuniziert.
Wiener Denker
"Er ist einer der wenigen, die ständig die Grenzen ihres Faches ausgelotet haben, interdisziplinär
forschten und nachhaltigen Einfluss auf die moderne Physik ausüben, insbesondere in der Quantenphysik",
so der Vorsitzende der Jury, Hubert Christian Ehalt.
Konstruktivisten wie Watzlawick würden dazu auffordern, im Moment, in der Gegenwart zu sein. Das Motto der
Wiener Vorlesung "Faust hat die falsche Frage gestellt" bezieht sich darauf. Denn es müsse nicht
gefragt werden, was die Welt im Innersten zusammen hält, sondern es sei zu hinterfragen, was das Geheimnis
sei, dass sie nicht auseinanderbricht. "Vor allem Persönlichkeiten wie Watzlawick und Thirring sind es,
die dazu beitragen, dass Wien zur ersten Innovationsstadt gewählt wurde", so Ehalt, der mit den Worten
schloss: "Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann".
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