"Neuer" Text aus der Spätantike
 begeistert Wissenschaft

 

erstellt am
12. 06. 13
14.00 MEZ

Experten der Universität Salzburg entdeckten den ältesten im lateinischen Westen produzierten Kommentar zu den vier kanonischen Evangelien und bringen spätantiken Autor ans Licht.
Salzburg (universität) - Im Zuge seiner Arbeit an mittelalterlichen Handschriften stößt Dr. Lukas Dorfbauer durch Zufall auf einen verloren geglaubten Text: Der Salzburger Philologe konnte einen ohne Verfassernamen überlieferten lateinischen Kommentar zu den vier kanonischen Evangelien als ein Werk der Spätantike identifizieren und seinem Autor zuweisen. Dieser Fund ist in mehrfacher Hinsicht eine Sensation: Es handelt sich um den ältesten im lateinischen Westen produzierten Kommentar zu den Evangelien, der uns annähernd vollständig erhaltenen ist – und der Autor ist Fortunatianus, Bischof von Aquileia um 350 n. Chr. Zu jener Zeit war die Stadt in der heutigen Provinz Udine ein politisches und geistesgeschichtliches Zentrum des römischen Reichs. „Damit hat die Literaturgeschichte einen ‚neuen‘ Autor“, freut sich Prof. Dorothea Weber, Leiterin der Arbeitsgruppe CSEL von der Universität Salzburg über die Entdeckung ihres Mitarbeiters, „das ist schon eine Sternstunde“.

Seit Sommer 2012 ist das CSEL (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum, das Corpus der Lateinischen Kirchenväter) an der Universität Salzburg beheimatet, zuvor war die Arbeitsgruppe Teil der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien. Das Team erforscht christliche Texte in lateinischer Sprache, die zwischen 200 und 700 n. Chr. entstanden sind. Hauptaufgabe des CSEL ist es, wissenschaftliche Ausgaben dieser Texte zu erstellen, mit denen Forscher aus verschiedenen Fachrichtungen – z. B. Theologen oder Historiker – arbeiten können.

Einzigartiges Werk mit Strahlkraft
Der entdeckte umfangreiche Kommentar von Fortunatianus gilt als eines der frühesten derartigen Werke des lateinischen Westens und hat die Bibelauslegung der nachfolgenden Jahrhunderte geprägt. Bisher waren von diesem Kommentar jedoch nur drei kurze Ausschnitte bekannt, das gesamte Werk galt als verschollen. „Texte aus der Spätantike sind uns so gut wie nie im Exemplar des Autors überliefert, sie wurden wieder und wieder händisch kopiert“, erklärt Lukas Dorfbauer, „die frühesten für uns greifbaren Abschriften sind mittelalterliche Handschriften“. Solche Abschriften wurden in den Klöstern angefertigt und sind manchmal hunderte Jahre und zahlreiche ‚Kopiergänge‘ vom Original entfernt.

In einer Handschrift aus dem frühen 9. Jahrhundert, die heute in der Kölner Dombibliothek aufbewahrt wird, ist der Forscher durch Zufall auf Fortunatians Text gestoßen, der dort allerdings ohne Angabe des Autornamens enthalten ist. Hätte Lukas Dorfbauer nicht jene drei bisher bekannten Textstellen im Kopf gehabt, wäre die Zuordnung nicht möglich gewesen. So aber konnte er seinen Verdacht bald überprüfen: „Wenn alle drei bekannten Ausschnitte in einem einzigen zusammenhängenden Text vereint sind, dessen Inhalt und Sprache überdies zu der entsprechenden Zeit passen, ist jeder Zweifel auszuschließen“, erklärt der Philologe. Er habe diese Entdeckung „vom Schreibtisch aus gemacht und nicht in der Dombibliothek Köln direkt“: Bereits seit ungefähr zehn Jahren ist die mittelalterliche Handschrift mit der Katalognummer 17 in digitalisierter Form verfügbar. „Seit diese Handschrift im Internet frei zugänglich ist, konnte sie jeder ansehen“, erzählt Dorothea Weber. „Ich bin sicher nicht der erste, der diese Handschrift angesehen hat, und trotzdem galt der darin enthaltene Text bisher als anonymer Kommentar aus dem Mittelalter“, ergänzt Lukas Dorfbauer.

Eine Art "Missing Link" der Literaturgeschichte
Für Literaturwissenschafter, Historiker oder Theologen ist ein derartiger Sensationsfund so etwas, wie es ein >Missing Link< in den Naturwissenschaften ist: Die Entdeckung liefert neue Erkenntnisse über die Auslegung der Bibel im 4. Jahrhundert und bietet die Chance, bisherige wissenschaftliche Theorien zu diesem Thema auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen. Spannend ist zudem die Frage, wo, wann und von wem Fortunatians Text in der Folgezeit verwendet wurde, ohne dass der Name des Autors ausdrücklich angeführt wurde. Denn eines ist bereits jetzt klar geworden: Fortunatians Evangelienkommentar war durchaus bekannt und wurde besonders im 8. und 9. Jahrhundert in Westeuropa benutzt. Es muss daher mehrere – heute verlorene – Kopien des Texts gegeben haben, die im Umlauf waren und gelesen wurden.

Freudige Überraschung in Köln
In der Dombibliothek Köln weiß man erst seit kurzem, welchen Schatz man in der Handschrift mit der Katalognummer 17 aufbewahrt. Nun geht es darum, den wertvollen Fund einer wissenschaftlich interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Zu diesem Zweck erarbeitet Lukas Dorfbauer eine kritische, also wissenschaftlich gesicherte Edition: Es würde nicht genügen, den Wortlaut der Kölner Handschrift bloß zu transkribieren und abzudrucken. Denn in den Jahrhunderten, die zwischen der Entstehung des Originaltexts und der vorliegenden Abschrift liegen, welche zu Beginn des 9. Jh. im nördlichen Rheinland angefertigt worden sein dürfte, haben sich zahlreiche größere und kleinere Fehler eingeschlichen. Diese gilt es aufzufinden und nach Möglichkeit zu korrigieren; wo eine Korrektur nicht möglich ist, müssen unsichere Passagen als solche ausgewiesen werden. Um den Originalwortlaut aus dem 4. Jahrhundert möglichst genau rekonstruieren zu können, sucht Lukas Dorfbauer derzeit nach weiteren Abschriften. „Ich habe tatsächlich eine Handschrift gefunden, die aus dem Gebiet der heutigen Schweiz oder aus Norditalien stammt. Sie ist ebenfalls im beginnenden 9. Jahrhundert geschrieben worden und enthält Fortunatians Kommentar – allerdings nur in umfangreichen Auszügen, die ein Kleriker für den eigenen Gebrauch aus einem vollständigen Exemplar anfertigte“, berichtet Lukas Dorfbauer. Es kann daher sein, dass die Kölner Handschrift die einzige vollständige Kopie des verloren geglaubten Werks darstellt, die es heute noch gibt. Die Suche geht weiter…

 

 

 

Informationen: http://www.csel.eu

 

 

 

 

 

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