Europäische Wirtschaftspolitik braucht
 dreifachen Strategiewechsel

 

erstellt am
24. 06. 13
14.00 MEZ

Wien (wifo) - Die Direktoren der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute aus den USA, Europa und Asien diskutieren eine Woche vor dem EU-Gipfel am 27. und 28. Juni in Paris die Konsequenzen der Krise und der schleppenden Erholung für die Wirtschaftspolitik. De Leiter des WIFO Karl Aiginger spricht sich für einen dreifachen Strategiewechsel der gesamteuropäische Politik, der politischen Strategien in den Hocheinkommensländern und in Südeuropa aus.

Unter dem Titel "Evidence Based Economic Policy in the Aftermath of the Crisis" befassen sich die Wirtschaftsforscher und OECD-Experten mit den Fragen einer unkonventionellen Geldpolitik (und Ausstiegsszenarien) für die Währungsunion, der Balance von aktiven und restriktiven Elementen in der Fiskalpolitik, Strukturreformen in Zeiten schwacher Nachfrage und hoher Arbeitslosigkeit sowie den bisherigen Erfolge und notwendigen Strategieänderungen der Reformprogramme der Troika in Griechenland, Irland, Portugal.

Aiginger unterstrich anlässlich seines Vortrages, dass sowohl die EU insgesamt als auch der Euro-Raum heute stabiler sei als noch vor einem Jahr. Aufgrund der zögerlichen Umsetzung von wachstumsstabilisierenden Maßnahmen und Reformen im Bankensektor erhole sich die Konjunktur in Europa nur langsam; Europa sei weiterhin weltweit die Region mit dem geringsten Wachstum. Gleichzeitig, so Aiginger, stocken einige der wichtigsten Reformvorhaben, und die zentralen umwelt- und wachstumspolitische Ziele der EU drohen in Vergessenheit zu geraten: Der Fortschritt hinsichtlich der Schaffung der Bankenunion ist aufgrund der Angst vor einer Übertragung der Kompetenzen der Mitgliedsländer auf die europäische Ebene langsam. Die unbegrenzte Kaufzusage für Staatsschulden, die so entscheidend für die Stabilisierung der Zinssätze war, wird mit juristischen Mitteln angefochten. In der Energiepolitik droht das wichtige Ziel der Priorität der Energieeffizienz und der Verringung des Einsatzes fossiler Brennstoffe von der neuen Priorität der niedrigen Preise ersetzt zu werden. In dieser Situation könnten die Geduld des hohen Anteils der arbeitslosen Jugendlichen in Südeuropa, aber auch der Steuerpflichtigen in Gläubigerländern überspannt werden und populistische Strömungen an Boden gewinnen.

Karl Aiginger empfiehlt daher einen dreifachen Strategiewechsel der gesamteuropäischen Politik, der Wirtschaftpolitik in den Hocheinkommensländern Europas und der politischen Strategien in Südeuropa:

  • Auf europäischer Ebene gilt es laut Aiginger den Wachstumsfokus zu verstärken und die Stabilität des Bankensektors sicherzustellen, um damit die realwirtschaftliche Investitionstätigkeit anzukurbeln. Die im Vorjahr beschlossenen Maßnahmen für Beschäftigung und Wachstum haben bis heute noch keinerlei Wirkung gezeigt. Die europäische Politik muss daher darauf hinarbeiten, die Kapitalaufstockung der Europäischen Investitionsbank schnellstmöglich in konkrete Projekte umzusetzen und die vorhandenen Gelder der Regionalpolitik verstärkt und schneller zur Schaffung von Arbeitsplätzen zu verwenden. Überdies müssen rasch wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit umgesetzt werden. Dazu zählen Reformen in Richtung einer dualen Ausbildung, bestmögliche Beschäftigungsgarantien und zusätzliche Mobilitätsförderung für Jugendliche. Die jüngsten länderspezifischen Empfehlungen der Europäischen Kommission zur Wirtschaftspolitik legen das Schwergewicht allerdings weiterhin auf Konsolidierung; die Verfehlung der Ziele der Bekämpfung von Armut und Klimawandel sowie das Stocken der Bildungs- und Forschungsinvestitionen werden als notwendiges Übel hingenommen. Es ist unrealistisch, dass der Gipfel die Semesterzeugnisse der Kommission korrigiert, er sollte aber alles tun, um die proaktiven Ziele sowie die Notwendigkeit einer Stärkung von Investitionen und Konsum stärker herauszustreichen.
  • Die stabilen Hocheinkommensländer mit geringen Haushaltsdefiziten müssen wieder die Rolle des Wachstumsmotors in Europa übernehmen, indem sie - im eigenen Interesse -, Ziele der Strategie "Europa 2020" verstärkt zu erreichen streben. Auch und gerade hier zeigen sich falsche Schwerpunktsetzungen der Konsolidierungspolitik, durch die Umwelt- und Verteilungsziele verfehlt und Zukunftsinvestitionen zu wenig dotiert wurden. Den Plänen, die Emissionen aus dem Einsatz fossiler Energie bis 2050 um 80% zu senken, fehlt jeder glaubwürdige Umsetzungsansatz, da die Subventionen für fossile Energieträger immer noch um ein Vielfaches höher sind als jene für erneuerbare Energiequellen. Lohnsteigerungen im Ausmaß des Produktivitätswachstums könnten den Konsum forcieren, und eine Verringerung der Einkommensunterschiede in den Hochlohnländern würde die Notwendigkeit von Transferleistungen zur Armutsvermeidung verringern, den Konsum stärken und die Arbeitslosigkeit dämpfen. Die Investitionen der Wirtschaft sind derzeit sehr niedrig, sodass die Unternehmen mittlerweile Nettogläubiger sind; die Investitionstätigkeit sollte durch höheren Konsum, aber auch wachstumsstärkende Maßnahmen in Bezug auf Bildung, Forschung, Kinderbetreuung und Energieeffizienz unterstützt werden.
  • Südeuropa muss hingegen die eigenen Zielvorstellungen verstärkt aktiv in den Reformprozess einbringen. Eine deutlichere Fokussierung von Investitionsmitteln einschließlich einer aktiven Industriepolitik und der Bildung von Zonen mit raschen Verwaltungsabläufen sind hier wesentliche Voraussetzungen. Unternehmensgründungen sowie eine Steigerung der Effizienz in der Verwaltung und in der Steuereinhebung sollten dabei eine zentrale Rolle spielen. Mittlerweile hat sich die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der südeuropäischen Krisenländer weitgehend stabilisiert, sodass diese Volkswirtschaften die Chance des starken Wachstums in der Nachbarschaft im Schwarzmeeraum und in Nordafrika vermehrt nutzen können.

Dem EU-Gipfel am 27. und 28. Juni kommt für diesen Strategiewechsel laut Aiginger entscheidende Bedeutung zu. Zentrale Fragen sind dabei, ob die wachstumsfördernden Mittel der EIB und der Regionalförderung transparenter, schneller und gezielter zur Schaffung von Beschäftigung eingesetzt werde können, ob die Lösung der Finanzierungsprobleme der Klein- und Mittelbetriebe in Südeuropa gelingt und ob die Aktivziele im Bereich Bildung, Forschung und Ökologisierung verstärkt werden. Zudem müsste klargestellt werden, dass die Finanztransaktionssteuer besonders kurzfristige, spekulative Transaktionen belastet, nicht die Realwirtschaft etwa bei der Ausgabe von Aktien, sowie dass ihre Erträge zur Verringerung der Steuern auf Arbeit verwendet werden. "Wenn Europa nicht wenigstens in einigen dieser Bereiche klare Signale setzt", so Aiginger, "könnte das Erwachen im Herbst bitter sein". Die Finanzmärkte könnten ihre positive Einstellung hinsichtlich der Stabilität des Euro-Raumes wieder zurücknehmen. Dies würde zu einem Stocken der Reformen im "Süden" und einem Rückgang der realwirtschaftlichen Nachfrage im "Norden" führen. Die Europäische Kommission stünde dann vor der fast unlösbaren Aufgabe, die europäische Wirtschaftspolitik bei steigender Arbeitslosigkeit, höheren Ungleichgewichten und weiterer Staatsverschuldung zu koordinieren.

Jeder Reformstillstand am Gipfel wäre daher als ein Rückschritt für die europäische Wirtschaft und als stillschweigende Aufgabe der Strategie "Europa 2020" zu verstehen. Die Alternative, ein sozioökonomisches Modell zu entwickeln, das auch für andere Länder vorbildhaft ist, verlangt Visionen, Konsequenz und den Abschied von alten Prioritäten. Neue strategische Ansätze sind laut Aiginger für Südeuropa, für Deutschland und Europa insgesamt nötig und möglich.

 

 

 

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