Wien (wifo) - Die Direktoren der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute aus den USA, Europa und Asien
diskutieren eine Woche vor dem EU-Gipfel am 27. und 28. Juni in Paris die Konsequenzen der Krise und der schleppenden
Erholung für die Wirtschaftspolitik. De Leiter des WIFO Karl Aiginger spricht sich für einen dreifachen
Strategiewechsel der gesamteuropäische Politik, der politischen Strategien in den Hocheinkommensländern
und in Südeuropa aus.
Unter dem Titel "Evidence Based Economic Policy in the Aftermath of the Crisis" befassen sich die Wirtschaftsforscher
und OECD-Experten mit den Fragen einer unkonventionellen Geldpolitik (und Ausstiegsszenarien) für die Währungsunion,
der Balance von aktiven und restriktiven Elementen in der Fiskalpolitik, Strukturreformen in Zeiten schwacher Nachfrage
und hoher Arbeitslosigkeit sowie den bisherigen Erfolge und notwendigen Strategieänderungen der Reformprogramme
der Troika in Griechenland, Irland, Portugal.
Aiginger unterstrich anlässlich seines Vortrages, dass sowohl die EU insgesamt als auch der Euro-Raum heute
stabiler sei als noch vor einem Jahr. Aufgrund der zögerlichen Umsetzung von wachstumsstabilisierenden Maßnahmen
und Reformen im Bankensektor erhole sich die Konjunktur in Europa nur langsam; Europa sei weiterhin weltweit die
Region mit dem geringsten Wachstum. Gleichzeitig, so Aiginger, stocken einige der wichtigsten Reformvorhaben, und
die zentralen umwelt- und wachstumspolitische Ziele der EU drohen in Vergessenheit zu geraten: Der Fortschritt
hinsichtlich der Schaffung der Bankenunion ist aufgrund der Angst vor einer Übertragung der Kompetenzen der
Mitgliedsländer auf die europäische Ebene langsam. Die unbegrenzte Kaufzusage für Staatsschulden,
die so entscheidend für die Stabilisierung der Zinssätze war, wird mit juristischen Mitteln angefochten.
In der Energiepolitik droht das wichtige Ziel der Priorität der Energieeffizienz und der Verringung des Einsatzes
fossiler Brennstoffe von der neuen Priorität der niedrigen Preise ersetzt zu werden. In dieser Situation könnten
die Geduld des hohen Anteils der arbeitslosen Jugendlichen in Südeuropa, aber auch der Steuerpflichtigen in
Gläubigerländern überspannt werden und populistische Strömungen an Boden gewinnen.
Karl Aiginger empfiehlt daher einen dreifachen Strategiewechsel der gesamteuropäischen Politik, der Wirtschaftpolitik
in den Hocheinkommensländern Europas und der politischen Strategien in Südeuropa:
- Auf europäischer Ebene gilt es laut Aiginger den Wachstumsfokus zu verstärken
und die Stabilität des Bankensektors sicherzustellen, um damit die realwirtschaftliche Investitionstätigkeit
anzukurbeln. Die im Vorjahr beschlossenen Maßnahmen für Beschäftigung und Wachstum haben bis heute
noch keinerlei Wirkung gezeigt. Die europäische Politik muss daher darauf hinarbeiten, die Kapitalaufstockung
der Europäischen Investitionsbank schnellstmöglich in konkrete Projekte umzusetzen und die vorhandenen
Gelder der Regionalpolitik verstärkt und schneller zur Schaffung von Arbeitsplätzen zu verwenden. Überdies
müssen rasch wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit umgesetzt werden. Dazu
zählen Reformen in Richtung einer dualen Ausbildung, bestmögliche Beschäftigungsgarantien und zusätzliche
Mobilitätsförderung für Jugendliche. Die jüngsten länderspezifischen Empfehlungen der
Europäischen Kommission zur Wirtschaftspolitik legen das Schwergewicht allerdings weiterhin auf Konsolidierung;
die Verfehlung der Ziele der Bekämpfung von Armut und Klimawandel sowie das Stocken der Bildungs- und Forschungsinvestitionen
werden als notwendiges Übel hingenommen. Es ist unrealistisch, dass der Gipfel die Semesterzeugnisse der Kommission
korrigiert, er sollte aber alles tun, um die proaktiven Ziele sowie die Notwendigkeit einer Stärkung von Investitionen
und Konsum stärker herauszustreichen.
- Die stabilen Hocheinkommensländer mit geringen Haushaltsdefiziten müssen
wieder die Rolle des Wachstumsmotors in Europa übernehmen, indem sie - im eigenen Interesse -, Ziele der Strategie
"Europa 2020" verstärkt zu erreichen streben. Auch und gerade hier zeigen sich falsche Schwerpunktsetzungen
der Konsolidierungspolitik, durch die Umwelt- und Verteilungsziele verfehlt und Zukunftsinvestitionen zu wenig
dotiert wurden. Den Plänen, die Emissionen aus dem Einsatz fossiler Energie bis 2050 um 80% zu senken, fehlt
jeder glaubwürdige Umsetzungsansatz, da die Subventionen für fossile Energieträger immer noch um
ein Vielfaches höher sind als jene für erneuerbare Energiequellen. Lohnsteigerungen im Ausmaß des
Produktivitätswachstums könnten den Konsum forcieren, und eine Verringerung der Einkommensunterschiede
in den Hochlohnländern würde die Notwendigkeit von Transferleistungen zur Armutsvermeidung verringern,
den Konsum stärken und die Arbeitslosigkeit dämpfen. Die Investitionen der Wirtschaft sind derzeit sehr
niedrig, sodass die Unternehmen mittlerweile Nettogläubiger sind; die Investitionstätigkeit sollte durch
höheren Konsum, aber auch wachstumsstärkende Maßnahmen in Bezug auf Bildung, Forschung, Kinderbetreuung
und Energieeffizienz unterstützt werden.
- Südeuropa muss hingegen die eigenen Zielvorstellungen verstärkt aktiv
in den Reformprozess einbringen. Eine deutlichere Fokussierung von Investitionsmitteln einschließlich einer
aktiven Industriepolitik und der Bildung von Zonen mit raschen Verwaltungsabläufen sind hier wesentliche Voraussetzungen.
Unternehmensgründungen sowie eine Steigerung der Effizienz in der Verwaltung und in der Steuereinhebung sollten
dabei eine zentrale Rolle spielen. Mittlerweile hat sich die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der südeuropäischen
Krisenländer weitgehend stabilisiert, sodass diese Volkswirtschaften die Chance des starken Wachstums in der
Nachbarschaft im Schwarzmeeraum und in Nordafrika vermehrt nutzen können.
Dem EU-Gipfel am 27. und 28. Juni kommt für diesen Strategiewechsel laut Aiginger entscheidende Bedeutung
zu. Zentrale Fragen sind dabei, ob die wachstumsfördernden Mittel der EIB und der Regionalförderung transparenter,
schneller und gezielter zur Schaffung von Beschäftigung eingesetzt werde können, ob die Lösung der
Finanzierungsprobleme der Klein- und Mittelbetriebe in Südeuropa gelingt und ob die Aktivziele im Bereich
Bildung, Forschung und Ökologisierung verstärkt werden. Zudem müsste klargestellt werden, dass die
Finanztransaktionssteuer besonders kurzfristige, spekulative Transaktionen belastet, nicht die Realwirtschaft etwa
bei der Ausgabe von Aktien, sowie dass ihre Erträge zur Verringerung der Steuern auf Arbeit verwendet werden.
"Wenn Europa nicht wenigstens in einigen dieser Bereiche klare Signale setzt", so Aiginger, "könnte
das Erwachen im Herbst bitter sein". Die Finanzmärkte könnten ihre positive Einstellung hinsichtlich
der Stabilität des Euro-Raumes wieder zurücknehmen. Dies würde zu einem Stocken der Reformen im
"Süden" und einem Rückgang der realwirtschaftlichen Nachfrage im "Norden" führen.
Die Europäische Kommission stünde dann vor der fast unlösbaren Aufgabe, die europäische Wirtschaftspolitik
bei steigender Arbeitslosigkeit, höheren Ungleichgewichten und weiterer Staatsverschuldung zu koordinieren.
Jeder Reformstillstand am Gipfel wäre daher als ein Rückschritt für die europäische Wirtschaft
und als stillschweigende Aufgabe der Strategie "Europa 2020" zu verstehen. Die Alternative, ein sozioökonomisches
Modell zu entwickeln, das auch für andere Länder vorbildhaft ist, verlangt Visionen, Konsequenz und den
Abschied von alten Prioritäten. Neue strategische Ansätze sind laut Aiginger für Südeuropa,
für Deutschland und Europa insgesamt nötig und möglich.
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