Drei neue Ausstellungen in der Secession

 

erstellt am
05. 07. 13
14.00 MEZ

ROBERT IRWIN – Double Blind, THOMAS LOCHER – Homo Oeconomicus, ROSSELLA BISCOTTI –The Side Room, von 05.07.-01.09.2013
Wien (secession) - Im Hauptraum der Secession präsentiert der US-amerikanische Künstler Robert Irwin seine neue Installation Double Blind. Die Arbeit reagiert auf die spezifischen Gegebenheiten des Raums, wofür der Künstler den Begriff "site-conditioned" (ortsbedingt) geprägt hat. Die Installation ist eine von wenigen dieser Art, die Irwin in Europa realisiert hat. Double Blind reiht sich als aktuelles Werk in seine kontinuierliche Auseinandersetzung mit Wahrnehmung und Verstehen, mit Licht, Ästhetik und mit Fragen zu Realität und Illusion ein.

Im Frühjahr 2012 hat Robert Irwin für seine Ausstellung Dotting the i's and Crossing the t's: Part I aus vier getönten Fenstern der Pace Gallery in New York jeweils ein Quadrat ausgeschnitten, wodurch die Geräusche und Gerüche der Umgebung in den Ausstellungsraum strömen konnten. An den gegenüber liegenden Wänden hingen auf Hochglanz polierte monochrome Malereien in schwarz und weiß, auf deren Oberflächen sich die Umgebung spiegelte: Fenster, andere Werke, der Ausstellungsraum, BesucherInnen. Die Intervention war subtil und wirkungsvoll zugleich und bündelte viele der künstlerischen Fragestellungen, die Irwin seit Jahrzehnten begleiten, allen voran die Frage, wie wir unsere Umgebung wahrnehmen. "Man denkt nicht, ob etwas Kunst ist oder nicht. Es geht nur darum, was man sieht oder nicht sieht." kommentierte er seine Herangehensweise in einem Interview*. Auch in seiner Arbeit Scrim Veil - Black Rectangle - Natural Light, die er 1977 für das Whitney Museum of American Art realisierte und die nach 36 Jahren nun wieder dort zu sehen ist**, war der Eingriff in den Raum minimal. "Der Raum war allerdings nicht ganz leer - und im Werk von Herrn Irwin kann "nicht ganz" die ganze Welt bedeuten."

Wahrnehmung und Erfahrung beschäftigen Irwin, seitdem er in den 1950er Jahren in Los Angeles seine künstlerische Laufbahn mit abstrakt-expressionistischer Malerei begann. Bald tauchten Zweifel an der Zulänglichkeit des Tafelbildes als Abbild von Realität auf, und er begann als einer der Pioniere der kalifornischen "Light and Space"-Bewegung, der in den 1960er Jahren u.a. Larry Bell, John McCracken, James Turrell und Doug Wheeler angehörten, Plexiglas, transluzente Stoffe, reflektierende Oberflächen und Leuchtstoffröhren einzusetzen. Diese Materialien unterstützten die Verbindung seiner Arbeiten mit deren Umgebung. Eine zentrale Frage, die den Paradigmenwechsel in seinem Werk einläutete. war: "Was war das für eine `Realität´, die sich ein solches Maß an Abstraktion anmaßen konnte, wie in der Forderung zum Ausdruck kommt, die Welt habe am Rand meiner Leinwand zu enden? Und was wäre es für eine Welt, die solche Grenzen nicht kennt?"

Als Folge seines Strebens nach einer Kunst, die nicht durch die Größe der Leinwand limitiert ist, gab Irwin 1970 sein Atelier auf und damit die Idee von einer durch ihre Objekthaftigkeit definierte Kunst zugunsten einer Kunst, die der Erscheinung, dem Phänomenalen verschrieben ist. Seither realisiert er Arbeiten, die er als "site-conditioned" bezeichnet. Anders als bei "standortdominierenden", "standortangepassten" und "ortspezifischen" Arbeiten, die zwar auf einen spezifischen Ort Bezug nehmen, diesen einbeziehen, in ihrer Rezeption als Kunstwerk jedoch immer souverän bleiben, nehmen seine Installationen erst mit dem sie umgebenden Raum und den dort vorherrschenden Konditionen ihre jeweilige Erscheinung an. Diese ist nicht auf einen anderen Ort übertragbar. Eine Qualität, die diesen Arbeiten innewohnt, ist, dass sie die Grenzen der Kunst zu Architektur, Landschaft, Stadtplanung, Nützlichkeit überwinden können.


Seit Mitte der 1970er Jahre hat Irwin fast 60 solcher ortsbedingter Arbeiten realisiert, darunter die Gestaltung des Vorplatzes und die der permanenten Präsentation der Sammlung der Dia Foundation gewidmeten Räumlichkeiten in Beacon, New York oder die Gärten des Getty Center in Los Angeles. Gegenwärtig sind bei Pace London in den historischen Räumen der Royal Academy of Arts zwei neue ortsbedingte Arbeiten zu sehen: Who's Afraid of Red, Yellow & Blue3 III, und Piccadilly.

Mit Double Blind reagiert Irwin auf die Charakteristika des Hauptraums der Secession: Der fensterlose Raum wirkt wie ein neutraler Behälter für Kunst. Die hermetische Abgeschlossenheit unterstreicht den Eindruck, es mit einem massiven und isolierten Volumen zu tun zu haben. Decken- und Bodenraster unterstreichen die Strenge und rhythmisieren den Raum. Mit dem von oben hereinströmenden Tageslicht wird jedoch auch die Außenwelt spürbar. Tageszeiten und die oft schnell wechselnden Wetterverhältnisse lassen sich an der sich verändernden Intensität des Lichts im Raum erahnen.

Die Installation Double Blind besteht aus 30 raumhohen, mit transluzentem Stoff bespannten Rahmen, die exakt dem raumdefinierenden Raster folgen und drei Körper bilden. Je nach Standpunkt des/der BetrachterIn und je nach Lichteinfall und -intensität verändert sich die Erscheinung der Installation wie auch die des Raums an sich. Die Tür zum Garten hinter der Secession steht offen, so dass der Außenraum optisch und akustisch wahrnehmbar wird.

"Ich habe mich immer gefragt, was das eigentliche Thema der Kunst sei. Was ihren hohen Stellenwert legitimiere …..Kunst, die beispielsweise Politik zu ihrem Thema macht, ist Politik, nicht Kunst. Doch Politik kann viele Formen annehmen … Das einzige Thema der Kunst ist die reine Erkenntnis des Menschen, immer und immer wieder zu sehen." Robert Irwin, 2013.

   

THOMAS LOCHER – Homo Oeconomicus
Der deutsche Künstler Thomas Locher, dessen Werk seit den späten 1980er Jahren als richtungweisend für die neokonzeptuelle Kunst gilt, untersucht in seinen Arbeiten das Regelwerk von Sprache und die Komplexität ihrer Funktionsweise. In seiner für die Secession konzipierten Ausstellung Homo Oeconomicus setzt er die bereits einige Jahre andauernde Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Sprache und Ökonomie und dem in diesen Systemen handelndem Subjekt fort. In zum größten Teil neuen Bildern, Objekten und Animationen verhandelt er Aspekte des Tausches, Strukturen des Kredits, Glaube und Glaubwürdigkeit sowie die Wirkung dieser Begriffe für die Konstituierung des Subjekts.

In der 15-teiligen Serie SMALL GIFT. TO GIVE. GIVING. GIVEN. GIFT, IF THERE IS ANY ... (J.D.) (2006/2013) koppelt Thomas Locher allgemein zugängliche Medienbilder, die das Motiv des Gebens, der Übergabe, Gesten der Handreichung etc. beinhalten, mit überarbeiteten Textzitaten aus Jacques Derridas Schrift Falschgeld. Zeit geben I. Letztere hinterfragt, inwieweit es überhaupt möglich ist zu geben. Unter welchen Bedingungen ist die Gabe so rein, dass sie mit keiner Erwartung verknüpft ist und dadurch einen Bruch darstellt mit den ökonomischen Tauschverhältnissen? Ausgehend von solchen Überlegungen lässt Locher am widersprüchlichen Phänomen der Gabe und den damit verbundenen und in Beziehung gesetzten Gesten die formellen und informellen Bindekräfte unserer Gesellschaft sichtbar werden.

In einer anderen Werkgruppe verknüpft Thomas Locher Reproduktionen von Giottos Fresken Der Kuss des Judas und Die Fußwaschung (Scrovegni-Kapelle Padua, 1304/06) in Form von ausgestanzten, aufgeschichteten Buchstaben W-G-W (Ware-Geld-Ware) und G-W-G (Geld-Ware-Geld) mit der marxistischen Analyse der Warenzirkulation und der Frage nach den Regeln der Transformation von Waren und Geld in Kapital. Die Montage, das Prinzip, widersprüchliche Bedeutungen in einem Bild zusammenzubringen, um ein mehrdeutiges, offenes Wechselspiel zu gestalten, ist ein für Locher charakteristisches Verfahren. Ana T. Pinto setzt dies in ihrem Katalogtext in Bezug zu Walter Benjamin, der (Foto-)montagen als dialektische Bilder klassifiziert:


"Das dialektische Bild beinhaltet eine eher politische als psychologische Repräsentation der Zeit - eine Verschiebung der Zeitlichkeit, die man als das Gegenteil von Nostalgie beschreiben könnte, denn sie impliziert, dass das Bild der Vergangenheit nur über eine unsichere Schnittstelle zur Gegenwart wahrgenommen wird. (...) Anstatt sich durch den Gegensatz zur Sprache zu definieren, gehen dialektische Bilder geradezu aus dem Medium der Sprache hervor. In Lochers Arbeit wird das dialektische Bild häufig im Wortsinn aus Texten komponiert, die auf Acrylplatten oder auf Möbelstücken präsentiert werden." (Ana T. Pinto)

Für Homo Oeconomicus hängt Thomas Locher alle Werke in eine Reihe, entgegen der üblichen Leserichtung ausschließlich auf die eine Seite der Galerieräume. Im letzten Raum präsentiert er auf Flachbildschirmen zwei digitale Textarbeiten HOMO OECONOMICUS, DER KREDIT / Vorspann (Animation 2013) und HOMO OECONOMICUS, DAS SUBJEKT DER ÖKONOMIE / Abspann (Animation 2013), die ein auch auf die anderen Werke der Ausstellung übertragbares Referenzsystem an Definitionen und Fragen bieten. Ausgehend vom englischen Begriff "Credits" greift Locher die filmische Form eines Vor- bzw. Nachspanns auf. Dem Genre, das die textuelle und visuelle Ebene miteinander verschränkt, entsprechend lässt er auf dem Bildschirm verschiedene, zum Teil mehrdeutige und widersprüchliche Begriffserklärungen zum Phänomen des Kredits mit seiner auf die Zukunft gerichteten Logik von Erwartung, Zahlungsterminen, Aufschub und Zinsen sowie zu den Eigenschaften des "ökonomischen Subjekts" erscheinen.

Thomas Locher zielt in seinen Bild-Text-Konstruktionen darauf ab, das Allgemeingültige und Gesetzmäßige zu relativieren, die politischen Implikationen, die Sprache strukturell eingeschrieben sind, kritisch zu erkunden und die Auswirkungen auf das Zusammenleben und Handeln der Menschen aufzuzeigen. Sabeth Buchmann stellt in ihrem Katalogbeitrag heraus, wie er "entlang der Verbindungslinien von (Konzept-)Kunst, Semiotik, Dekonstruktion und (Post-)Strukturalismus verschiedene Werkformen herausgebildet hat", die das Informationsparadigma der Konzeptkunst entscheidend weiterentwickeln:

"Denn im Unterschied zu konzeptuellen Werkformen erscheinen Lochers Montagen keineswegs von referenzieller Bedeutung gereinigt, noch lösen sie das Problem der Bedeutung durch schiere Referenzialität. Vielmehr bilden sie ‚buchstäbliche' Schnittmengen zwischen ästhetischen und semantischen Informationen, mithin wechselseitige Übertragungen zwischen ikonischen und grammatikalischen Regeln, aus denen sich Themen wie Tausch- und Kreditwesen, Gesetzgebung, Menschenrechte, Rechtsprechung etc. gleichsam strukturell erschließen." (Sabeth Buchmann)

Eingeladen vom Vorstand der Secession
Kuratiert von Annette Südbeck

Thomas Locher, geboren 1956 in Munderkingen (DE), lebt und arbeitet in Berlin und Kopenhagen. Ausgewählte Einzelausstellungen: 2013 Homo Oeconomicus, Secession, Wien; 2012 Parcours, Kunstpalais Erlangen; and in between, Galerie Stadtpark, Krems (with Katarina Zdjelar); 2010 suspended, Georg Kargl Fine Arts, Wien; x und noch etwas y dazu, Kubus Lenbachhaus München; 2009 Supplements Signs Signifiers, Galerie Reinhard, Stuttgart; 2008 etwas, Charim Ungar Contemporary Berlin; 1995 Präambel und Grundrechte im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland [Diskurs2], Kunstverein München; 1993 Kunsthalle Zürich; 1992 Stichting de Appel, Amsterdam; Wer sagt was und warum, Kölnischer Kunstverein, Köln.

Ausgewählte Gruppenausstellungen der jüngsten Zeit: 2013 FORMER WEST, Haus der Kulturen der Welt, Berlin; Kubus.SPARDA -KUNSTPREIS, Kunstmuseum Stuttgart; 2012 Newtopia: The State of Human Rights, Cultuurcentrum Mechelen - LAMOT Heritage Centre Hof van Busleyden Municipal Museum - Dossin Barracks Memorial - Museum and Documentation Centre on the Holocaust and Human Rights - Academie voor Beeldende Kunst, Mechelen; 2011 politics. ich-ichs-wir, Kunsthalle Ravensburg; 2010 squatting. erinnern, vergessen, besetzen, Temporäre Kunsthalle, Berlin; Carte Blanche IX. Vor heimischer Kulisse, Galerie für Zeitgenössische Kunst, Leipzig; 89 Km. Colección CGAC, MARCO/Museo de Arte Contemporánea de Vigo, Vigo.

   

ROSSELLA BISCOTTI – The Side Room
Meist sind es Ereignisse der jüngeren Geschichte und Politik, die den Ausgangspunkt für Rossella Biscottis Projekte bilden. Ihr Interesse gilt auch Themen und Erkenntnissen aus dem Bereich der Sozial- und Naturwissenschaften, wobei ihr Fokus auf Untersuchungen und Experimenten zu Erinnerung und Träumen liegt. Auslöser für ihre akribisch durchgeführten Recherchen sind oft Artikel aus Magazinen oder Zeitungsausschnitte, die ihre Aufmerksamkeit erregen und in denen sie Fragmente persönlicher Geschichten erkennt, die sie im Zuge ihrer Arbeiten zu Reflexionen über Identität, das Verhältnis zu Realität und die Darstellung von Erinnerung in Ausstellungsprojekte transformiert.

Ihre auf Dialog aufgebaute Arbeitsweise in Form von Recherchen sowie Gesprächen und Interviews mit Beteiligten und ZeitzeugInnen wird für konkrete Ausstellungspräsentationen stets begleitet von ihrer Suche nach formal-stringenten Lösungen. Zu ihren bevorzugten Mitteln zählen hierbei "arme" Materialien wie Beton, Eisen, Blei, Spanplatten oder kürzlich Kompost, die von Biscotti in Bezug zur Thematik gestellt werden und die unterschiedlichen Erzählstränge miteinander verbinden.

Auch heute noch denke ich bei der Gestaltung einer Skulptur über Erzählung nach, vor allem aber darüber, wie sich Geschichten, Ideen, Entwicklungen und andere Informationen zu einem Ganzen zusammenfügen lassen.

Im vergangenen Jahr hat die italienische Künstlerin an drei der wichtigsten periodischen Großausstellungen Europas teilgenommen: der Manifesta 9 in Genk, der dOCUMENTA (13) in Kassel und der 55. Kunstbiennale in Venedig.

Ihre bislang bekannteste und umfassendste Arbeit ist The Trial (Der Prozess, 2010-2012), eine multimediale Installation aus Skulpturen, Audiocollagen, Videos und Performances, für die sie 2010 den Premio Italia Arte Contemporanea erhielt und die 2012 auf der dOCUMENTA (13) gezeigt wurde. Die Arbeit nimmt im sogenannten ‚Processo 7 aprile" (Gerichtsprozess vom 7. April) von Rom ihren Ausgang. Am 7. April 1979 wurden Mitglieder der revolutionären Linken (von Potere Operaio und Autonomia Operaia) in erster Linie Intellektuelle, AutorInnen und LehrerInnen verhaftet und terroristischer Handlungen beschuldigt. Zu den bekanntesten Verurteilten zählen die Philosophen Paolo Virno und Antonio Negri, der beschuldigt wurde, Drahtzieher hinter der Entführung und Ermordung des christdemokratischen Parteivorsitzenden Aldo Moros durch die Roten Brigaden gewesen zu sein. Der Prozess fand von 1982 bis 1984 im sogenannten Aula Bunker statt, einem Gebäude, das in den 1930er-Jahren im rationalistischen Stil als Fechtschule gebaut worden war und das für seine Funktion als Hochsicherheitsgericht adaptiert wurde. Von diesen Einbauten, wie Gitterkäfigen für die Angeklagten, fertigte Biscotti Betonabgüsse an, die sie zusammen mit einer sechsstündigen Audioinstallation von den originalen Prozessaufnahmen ausstellt. Simultanübersetzungen der Audioinstallation sowohl von professionellen Dolmetschen als auch von Laien sind häufig Teil der Präsentation dieser Arbeit.

Ihre jüngste Arbeit I dreamt that you changed into a cat… gatto… ha ha ha wurde von Rossella Biscotti für die diesjährige Venedig Biennale entwickelt, wo sie derzeit im Rahmen der von Massimiliano Gioni kuratierten Ausstellung Il Palazzo Enciclopedico im Arsenal zu sehen ist. Biscotti hat dafür einen mehrmonatigen Traum-Workshop (Laboratorio Onirico) mit einer Gruppe von 14 Insassinnen des venezianischen Frauengefängnisses von der Insel Giudecca abgehalten.

"Ich habe versucht, einen Raum für den Austausch von Träumen zu schaffen, einen Ort, der sichtbar machen könnte, wie wir in Institutionen allgemein leben, vor allem aber, wie persönliche Erzählungen durch Institutionen wie speziell dieses Gefängnis vermittelt werden. […] Dabei standen vor allem die nächtlichen Träume aller Beteiligten im Mittelpunkt, und dennoch gab es in unseren Gesprächen einen stetigen Wechsel zwischen Traum und Wirklichkeit, Wirklichkeit und Traum ..."

Parallel dazu hat sie die im Gefängnis praktizierte Kompostierung von Abfällen aus dem institutionseigenen Garten aufgegriffen. Für die Dauer des Projekts hat sie zusammen mit den Gefangenen die Zusammenstellung des Komposts, der normalerweise nur Gartenabfälle beinhaltet, verändert und um Essensreste erweitert, die von den Insassinnen gesammelt wurden.

Da der Kompost für das Projekt bestimmt war, wussten die Frauen, dass er das Gefängnis verlassen und auf der Biennale ihr Leben repräsentieren würde.

Die Menge des Komposts bestimmte letztendlich die Größe von Biscottis skulpturaler Setzung im Arsenal: aus Kompost geformte und an Fundamentfragmente erinnernde Formen, die selbst wiederum Träumen aus dem Workshop entstammen.

In The Side Room, ihrer ersten Einzelausstellung im Österreich, zeigt Biscotti im Grafischen Kabinett eine ganz andere Facette aus dem venezianischen Traum-Projekt. Eine Audiocollage aus dem Laboratorio Onirico lässt die Frauen direkt zu Wort kommen. In dem einstündigen Zusammenschnitt erzählen Cristina, Daniela, Diana, Elena F., Elena S., Hanan, Luciana, Manuela, Pina, Racheal, Rita, Roberta, Samira und Suad ihre Träume, mitunter von Zwischenfragen und Kommentaren der anderen unterbrochen. An den Wänden hängen die Portraits der Sprecherinnen und agieren als Stellvertreterinnen für Menschen, die nicht anwesend sein können. Diese Portraits wurden von Roberta Baseggio angefertigt, der einzigen Träumerin, deren vollen Namen wir erfahren. In einer Vitrine im Raum zeigt Biscotti einige hastig notierte, auf Zeichenpapier, Kalender- und Notizbüchern festgehaltene Sitzordnungen vom Workshop, die auf das sensible Gefüge einer Gruppe verweisen und gleichzeitig den Raum und die Architektur als Konstante ausweisen. Findet die Absenz der Sprecherinnen ihr Äquivalent in der bewusst reduzierten Gestaltung des Raumes, so stellen die von Biscotti entworfenen Eisenmöbel in ihrer physischen Präsenz den Gegenpol zur Immaterialität der Audioinstallation und der Körperlosigkeit der Portraits dar.

Es ging darum herauszufinden, wie dieses Hin- und Herschwenken zwischen dem Institutionellen und dem Individuellen, der Gruppe und der Einzelperson funktioniert. Wie entsteht ein gemeinsamer Moment und wie wird er aufrechterhalten - das ist das Wichtigste in diesem Projekt.

Ein Projekt, das Rossella Biscotti ganz speziell für ihre Ausstellung in der Secession initiiert hat, findet sich ausschließlich in der Publikation wieder, die von der Künstlerin gleichsam als Erweiterung der Ausstellung behandelt wirdund die ungewöhnliche Verbindung zweier autonomer Projekte betreibt. Als die Künstlerin zur Vorbereitung ihrer Ausstellung nach Wien kam, hat die besondere Organisationsform der Secession als Ausstellungshaus, das von einer KünstlerInnenvereinigung nach demokratischen Grundsätzen geleitet wird, ihr Interesse geweckt und sie spontan dazu bewogen, den für die Ausstellungsprogrammierung verantwortlichen Vorstand einzuladen, ebenfalls an einem von ihr initiierten Traumprojekt teilzunehmen. Für das Wiener Traumprojekt, an dem insgesamt acht Mitglieder des Vorstands teilnahmen, wurde ein nicht öffentliches Blog eingerichtet, in dem die TeilnehmerInnen ihre Träume anonym als Text oder visuell in Form von Zeichnungen oder Fotos posten und miteinander teilen konnten. Gleichzeitig wurde das gesammelte "Traummaterial" auf diese Weise der Künstlerin zur Verfügung gestellt. Beide Traumprojekte zusammen sollten aus unterschiedlichen Blickwinkeln das Verhältnis und die Wechselwirkungen von Träumen und institutionellen Rahmenbedingungen erforschen. "Eine totale Institution wie ein Gefängnis stellt hier nach Erving Goffman den Extremfall einer ‚sozialen Institution' dar, während ein Ausstellungshaus für zeitgenössische bildende Kunst den andern Extrempunkt auf dieser Skala einnimmt. Gerade in diesem Spannungsverhältnis sah Biscotti den Reiz ihrer doppelten Recherche, von der sie erwartete, dass sich daraus für beide Projekte neue Lesarten und unerwartete Querverbindungen ergeben können […]."(2)

Zusätzlich zum Traumprojekt mit dem Vorstand hat sich die Künstlerin mit der Architektur und der Baugeschichte der Secession beschäftigt. In der vom Wiener Architekten Adolf Krischanitz verantworteten Generalsanierung der Secession (1985-1986) - die eine Gratwanderung zwischen Denkmalschutz, Architekturarchäologie und den Anforderungen eines zeitgenössischen Ausstellungsbetriebes darstellte - identifizierte Biscotti einen wichtigen Einschnitt und einen Moment der Erneuerung in der Geschichte der KünstlerInnenvereinigung. Im Zusammenhang mit ihrem Vorstandsprojekt konzentrierte sie sich auf die Möbelentwürfe von Krischanitz für das Sitzungszimmer sowie das damals im ganzen Haus umgesetzte Farbkonzept des Künstlers Oskar Putz, das heute nur noch im Sitzungszimmer vollständig vorhanden ist. In weiterer Folge forschte Biscotti im Archiv der Secession und führte Gespräche mit Adolf Krischanitz und Oskar Putz. Das Farbsystem aus 43 Farben, das Putz für die Secession konzipiert hat, wurde für den Katalog rekonstruiert und nimmt dort eine zentrale Rolle ein: analog zu den Portraits der Frauen aus dem Gefängnis repräsentieren die Farben für Biscotti - ähnlich wie Baupläne - die Secession. Die über den ganzen Katalog verteilten Farbseiten bilden zudem eine visuelle Brücke zwischen den beiden Traumprojekten.

 

 

 

Informationen: http://www.secession.at

 

 

 

 

 

zurück

 

 

 

 

Kennen Sie schon unser kostenloses Monatsmagazin "Österreich Journal" in vier pdf-Formaten? Die Auswahl finden Sie unter http://www.oesterreichjournal.at