Jülich (forschungszentrum) - Wissenschaftler aus Japan und Jülich haben ein neuronales Netzwerk bisher
unerreichter Komplexität simuliert. Das zugrunde liegende Modell bildet statistisch die Verschaltung des menschlichen
Nervensystems nach. Es umfasst 1,73 Milliarden Nervenzellen, die über insgesamt 10,4 Billionen Kontaktstellen
miteinander verbunden sind. Die Forscher nutzten erstmals alle 82.944 Prozessoren des K Supercomputers, des aktuell
viertschnellsten Superrechners der Welt, für eine derartige neurowissenschaftliche Berechnung.
Die Simulation stellt die biologische Aktivität der Nervenzellen innerhalb einer Sekunde nach. Jede Zelle
ist in dieser Zeit – in Übereinstimmung mit dem Aktivitätslevel des menschlichen Gehirns – im Schnitt
4,4-mal aktiv. Der im japanischen Ko-be installierte Supercomputer K benötigte für die Berechnung 40
Minuten. Insgesamt belegte die Berechnung rund 1 Petabyte Speicherplatz, ähnlich viel, wie der Arbeitsspeicher
von 250.000 PCs. Wissenschaftler des Forschungszentrums Jülich, der japanischen RIKEN Forschungsinstitute
in Wako-shi und Kobe (AICS) und des Okinawa-Instituts für Technologie (OIST) hatten die Simulation durch die
Entwicklung neuer Datenstrukturen für die verwendete Simulationssoftware NEST überhaupt erst möglich
gemacht.
„Das neuronale Netzwerk, das wir berechnet haben, entspricht trotz seiner enormen Größe gerade einmal
einem Prozent des gesamten menschlichen Gehirns“, erläutert Prof. Markus Diesmann vom Jülicher Institut
für Neurowissenschaften und Medizin, (INM-6). Die Nervenzellen wurden zufällig miteinander verknüpft,
sodass sich noch keine neuen neurowissenschaftlichen Erkenntnisse ableiten lassen. „Dennoch ist die Simulation
eine richtungsweisende Vorarbeit, beispielsweise für das Human Brain Project. Sie zeigt, was heute technologisch
möglich ist und wo die Grenzen liegen.“
Wissenschaftler versprechen sich von der Simulation der Hirnaktivität neue Erkenntnisse zu hochkomplexen Fragen,
etwa zu den Ursachen neurodegenerativer Erkrankungen wie Parkinson oder Demenz. Das europäische Human Brain
Project, an dem das Forschungszentrum Jülich maßgeblich beteiligt ist, zielt darauf ab, das komplette
Gehirn auf dem Computer zu simulieren. Dafür werden gigantische Rechenkapazitäten benötigt, wie
sie erst die nächsten Rechnergenerationen mit „Exascale-Leistung“ erbringen können.
Die Hirnaktivität lässt sich bisher nur sehr stark vereinfacht auf Computern abbilden. Das nun zu Testzwecken
erstellte Modell setzt nicht nur durch seine reine Größe, sondern auch aufgrund der Genauigkeit der
mathematischen Beschreibung neue Maßstäbe. „Mit 24 Byte für jede Synapse zwischen den erregenden
Nervenzellen lassen sich die biologischen Vorgänge sehr genau abbilden. Man könnte so beispielsweise
feststellen, wie sich die Eigenschaften dieser Verbindungen zwischen den Nervenzellen ändern, wenn das Gehirn
etwas Neues lernt“, erklärt die Jülicher Neurowissenschaftlerin Prof. Abigail Morrison, die das Projekt
gemeinsam mit Diesmann leitet.
Die optimierte Simulationstechnologie wird künftig unter anderem bei der Erforschung der neuronalen Grundlagen
der Bewegungssteuerung und den Ursachen der Parkinson-Krankheit am japanischen Forschungsinstitut OIST eingesetzt.
„Die Ergebnisse zeigen, dass Anwendungen aus den Neurowissenschaften die Leistung aktueller Petascale-Rechner voll
ausschöpfen können. Das Projekt ebnet den Weg, um auf dem K Supercomputer Simulationen der Gehirnaktivität
und des Bewegungsapparates zu kombinieren,“ erläutert Prof. Kenji Doya, Leiter der Forschungsgruppe am OIST.
Die Berechnung des neuronalen Netzwerkes wurde mit einer neuen Version der Software NEST durchgeführt, die
Wissenschaftler weltweit frei verwenden können und in ihrer Forschung einsetzen. „Bei den Vorbereitungen war
besonders der Zugang zu Jülichs Superrechnern JUGENE und seinem Nachfolger JUQUEEN entscheidend, um die Software
entwickeln und die Resultate gegenchecken zu können“, berichtet Prof. Shin Ishii, Leiter des Brain und Neural
Systems Team. Gemeinsam mit Diesmann hatte er das Projekt 2009 am RIKEN-Institut initiiert. „Seitdem“, fügt
Prof. Mitsuhisa Sato vom AICS hinzu, „arbeiteten die Nachwuchswissenschaftler Jun Igarashi, Gen Masumoto, Susanne
Kunkel und Moritz Helias daran, die Open Source Software NEST für den K-Supercomputer fit zu machen."
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