Wien (rk) - Rund 50 Schritte sind es durch die aktuelle Ausstellung zur Geschichte des
Wiener Gemeinderates und Landtages, die bis 24. Jänner 2014 im Wiener Stadt- und Landesarchiv (Magistratsabteilung
8) zu sehen ist. 50 Schritte, die BesucherInnen in die 165-jährige Geschichte eintauchen lassen: vom Bürgerausschuss
bis zum Gemeinderat für die kommunale Selbstverwaltung 1848. Von der zusätzlichen Funktion als Landtag
ab 1922 bis zur Ausschaltung durch den Austrofaschismus. Von der Wiedereinsetzung 1945 bis zu den aktuellsten Sitzungen.
wien.at sprach mit Ausstellungs-Kuratorin Barbara Steininger über Unterscheidungsschwierigkeiten zwischen
Gemeinderat und Landtag, "Scheinparlamente", Wortduelle - und wann Politik "Männersache"
war.
wien.at: Wie kam es eigentlich dazu, dass Sie eine Ausstellung zum Wiener Gemeinderat und Landtag machen wollten?
Steininger: Beides sind zentrale Gremien im politischen System Wiens. Außerdem haben wir als Wiener
Stadt- und Landesarchiv (MA 8) die einzigartige Möglichkeit, auf die Originalprotokolle aller Sitzungen bis
1848 zurückgreifen zu können. Ab 1996 mittels unserer Datenbank "Infodat Wien" sogar in digitaler
Form. Ein Service, das den WienerInnen auch über www.wien.at/infodat zur Verfügung steht und neben Wortprotokollen
genauso Anträge, Anfragen etc. beinhaltet. Kombiniert man dieses interessante Thema mit unseren Quellen, entsteht
eine informative Zeitreise von 1848 bis 2013.
wien.at: Was sind aus Ihrer Sicht die Highlights der aktuellen Ausstellung?
Steininger: Besonders interessant finde ich die Fotos, die das eher unbekannte Scheinparlament der "Bürgerschaft"
von 1934-38 sowie der nationalsozialistischen Wiener Scheinvertretung der "Ratsherren" von 1939-45 zeigen.
Außerdem zeigen wir die ersten Legitimationszeichen aus 1848, Siegelstempel des Gemeinderates, sowie Filmausschnitte
der Media Wien Filme. Ein besonderes Anliegen war es mir, die Pionierinnen sichtbar zu machen: Die ersten Frauen
in der Wiener Stadtpolitik.
wien.at: Stichwort Personalunion. Die Wiener GemeinderätInnen sind zugleich Landtagsabgeordnete. Vielen WienerInnen
fällt es schwer zwischen Gemeinderat und Landtag zu unterscheiden. Woran liegt das?
Steininger: Wien ist - wie Berlin, Hamburg oder Basel - ein Stadtstaat. Das heißt, gleichzeitig Stadt
und Bundesland. Organisatorisch ist das schwieriger zu trennen. In Wien beschließt der Gemeinderat das Budget.
In den Bundesländern machen das die Landtage. Während in den Bundesländern der Landeshauptmann/die
Landeshauptfrau vom Landtag gewählt wird, wählt in Wien der Gemeinderat den Bürgermeister, der zugleich
Landeshauptmann ist. Eine Trennung ist in Wien nicht so klar ersichtlich, wie anderswo. Hinzu kommt: Wien war zur
Zeit der Monarchie auch Hauptstadt des Kronlandes Niederösterreich. Damit war der Wiener Gemeinderat, der
bereits 1848 entstanden ist, bei einer Reihe von Fragen von der Zustimmung des Niederösterreichischen Landtages
abhängig. Das änderte sich erst mit der Bundesverfassung 1920.
wien.at: Kurz skizziert - was unterscheidet Gemeinderat und Landtag?
Steininger: Es sind unterschiedliche Ebenen des politischen Systems. Im Landtag erfolgt die Landesgesetzgebung,
beispielsweise wird hier die Bauordnung behandelt. Zudem werden im Landtag etliche Richtlinien der Europäischen
Union umgesetzt. Der Gemeinderat beschließt wiederum das Budget und wählt den Bürgermeister sowie
die Stadtregierung. Eine Kontrollfunktion wird vom Landtag und vom Gemeinderat wahrgenommen.
wien.at: Hat sich die Wahrnehmung dieser Gremien über die Jahre verändert?
Steininger: Die Wahrnehmung hat, vor allem durch die Präsenz im Internet, zugenommen. Dazu wurden die
Möglichkeiten für die Landtagsabgeordneten und Gemeinderatsmitglieder ausgeweitet. Seit 1978 gibt es
eine Fragestunde, in der Fragen an die zuständigen Mitglieder der Stadt- und Landesregierung gerichtet werden
können. Es wurde die Möglichkeit für Untersuchungs-Ausschüsse und -Kommissionen eingeführt
und als Minderheitenrecht etabliert. Zudem gibt es ein umfassendes Rederecht, das von BezirksvorsteherInnen, der
PatientInnenanwaltschaft und dem Rechnungshofpräsidenten genutzt werden kann. Seit kurzer Zeit dürfen
sich auch österreichische EU-ParlamentarierInnen im Wiener Gemeinderat und Landtag zu Wort melden, um die
verschiedenen Ebenen des politischen Systems zu verdeutlichen. Immerhin wirken EU-Richtlinien bis in die eigene
Wohnung: von der Glühbirnenauswahl bis zur Therme im Badezimmer.
wien.at: Apropos Rederecht: In politischen Gremien wird seit jeder die rhetorische Klinge geschwungen. Die Kunst
der Rede, um andere von eigenen politischen Standpunkten zu überzeugen. Wie haben sich diese politischen Diskussionen
historisch gesehen entwickelt?
Steininger: Der Parlamentarismus lebt von öffentlich geführten Debatten, aber auch von der öffentlichen
Fassung von Beschlüssen, die unser Leben regeln. Wortduelle sind das eine, sachlich fundierte Beiträge,
die beispielsweise eine Gesetzesnovelle erklären, das andere. Die Wortduelle sind übrigens nicht überzubewerten.
Etliche Beschlüsse werden einstimmig gefasst. Das ist auch ein Wesen des Parlamentarismus. Persönliche
An- und Untergriffe gab es immer wieder. Insbesondere gegen Ende der 1. Republik setzte eine Radikalisierung ein.
Diese gipfelte 1932 im Einzug der Nationalsozialisten in den Wiener Gemeinderat. Da gab es tumultartige Szenen
und heftige, untergriffige Diskussionen. Die Nationalsozialisten saßen nicht lange im Gemeinderat, denn 1933
wurde die NS-Bewegung vom damaligen Bundeskanzler Dollfuß verboten.
wien.at: Engelbert Dollfuß, als Begründer des Austrofaschismus, war aber auch nicht unbedingt ein Freund
des Parlamentarismus?
Steininger: Ein Parlament wollten sich auch Diktaturen leisten. Daher wurden Scheinvertretungen ins Leben
gerufen. Unter Dollfuß wurde der Gemeinderat 1934 aufgelöst und die "Wiener Bürgerschaft"
eingesetzt. Formal nahmen die eingesetzten Räte an der Gesetzwerdung teil, in der Realität ging aber
nichts ohne den von Dollfuß eingesetzten Bürgermeister. Es gab keine Kontrollrechte mehr und auch keine
Immunität. Das führte zu einer massiven Abhängigkeit vom Bürgermeister. Nach der Machtergreifung
der Nationalsozialisten wurde die "Wiener Bürgerschaft" aufgelöst und die "Ratsherren"
eingesetzt. 45 Männer, die dem Reichsstatthalter beratend zur Seite stehen sollten. Berufsvoraussetzung unter
anderem eine "nationale Gesinnung" und Staatsangehörigkeit "deutschen oder artverwandten Blutes".
Welche Wertigkeit das NS-Regime dem ehemaligen Gemeinderat zukommen ließ, drückte sich auch in ihrer
Wortwahl aus: Der Sitzungssaal wurde abwertend als "Ratsstube" bezeichnet.
wien.at: In Ihrer Ausstellung gehen Sie auch auf die ersten Frauen in der Wiener Stadtpolitik ein. Wie hat sich
die Geschlechterverteilung über die Jahre entwickelt?
Steininger: Frauen waren über 70 Jahre von der Politik ausgeschlossen. Das war "Männersache".
Erst 1919 durften auch die Frauen den Wiener Gemeinderat wählen. Bei der Zusammensetzung des Provisorischen
Gemeinderates 1918 waren sieben Prozent Frauen. Mit der Gemeinderatswahl 1919 stieg der Frauenanteil auf 13 Prozent.
Von 1945 bis 2008 nahm die Anzahl stetig zu. 1987 waren ein Viertel aller Mandate mit Frauen besetzt. 2008 wurde
mit 42 Frauen von 100 Mandaten ein Höchststand erreicht. Seit den letzten Gemeinderatswahlen 2010 liegt der
Frauenanteil bei 34 Prozent. Österreichweit zählt Wien übrigens traditionell zu den Landtagen mit
dem höchsten Frauenanteil.
wien.at: Die Sitzungsprotokolle geben eine schöne Übersicht über die Anzahl an Redebeiträgen,
Anträgen, Resolutionen, et cetera. Lässt sich die Arbeit von GemeinderätInnen allein daran festmachen?
Steininger: Ich denke nicht. Als PolitikerIn eines kleinen Klubs kommt man automatisch auf eine höhere
Anzahl an Redebeiträgen. Auch das Verhältnis Regierung zu Opposition bleibt unberücksichtigt. Die
Klubs der Regierungsparteien setzen politische Ziele mit ihrer Mandatsmehrheit um. Oppositionsparteien bleibt im
Parlamentarismus nur die Möglichkeit ihre Anliegen über Anträge einzubringen. Außerdem sagt
die Anzahl von Reden auch nichts über die Arbeit der GemeinderätInnen in den Ausschüssen und in
ihren Wahlkreisen aus.
wien.at: Verbunden mit der Arbeit von GemeinderätInnen wird wiederkehrend über die Größe der
beiden Gremien diskutiert. Wie hat sich das in Wien entwickelt?
Steininger: Im ersten Gemeinderat 1848 wurden noch 150 Mandate vergeben. Bis 1905 stieg die Anzahl auf 165.
Grund war damals vor allem die Eingemeindung von Floridsdorf und der damit verbundene Bevölkerungszuwachs.
1923 wurde die Anzahl auf 120 reduziert. Seit 1932 gibt es 100 Gemeinderatsmandate.
Weitere Informationen zur Ausstellung auf http://www.wien.at
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