Wiener Gruppe ist ideologischer Geschichtskonstruktion weiter auf der Spur – Curie-Stipendium
an Nachwuchshistoriker
Wien (scinews) - Wie wurde die „Völkerwanderung“ erfunden? Zu dieser Frage will das Institut für
Mittelalterforschung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien weitere Antworten
liefern. Bis 2015 erforscht dazu der Nachwuchshistoriker Stefan Donecker (35) im Zuge eines Curie-Projektes, wie
die ideologische Konstruktion einer so genannten „Völkerwanderung barbarischer Eroberer gegen Rom“ entstanden
ist.
Donecker erhielt das Marie-Curie-Stipendium der Europäischen Kommission – genauer ein Intra-European Fellowship
im Zuge des Siebten Rahmenprogramms für Forschung und technologische Entwicklung. Ab 1. Oktober geht der Historiker
mit seinem Forschungsvorhaben der Frage auf den Grund, wie die Vorstellung einer „germanischen Völkerwanderung“
im Geschichtsdenken als zentrales Motiv nationaler Identitätsstiftung entstanden ist und analysiert die Ursprünge
dieses bis heute wirkungsmächtigen nationalen Mythos.
Meistererzählung des Nationalismus
„Wer erforscht, wie die Vorstellung einer ´germanischen Völkerwanderung` entstanden ist, geht einer
der großen Meistererzählungen des deutschen Nationalismus auf den Grund“, sagt Donecker. Nach seinen
bisherigen Resultaten lässt sich „die ideologische Konstruktion der ´Völkerwanderung` in ihren
Grundzügen rund ein halbes Jahrtausend zurückverfolgen, bis in die humanistische Historiografie des frühen
16. Jahrhunderts. Ihren verhängnisvollen Höhepunkt erlebte sie im 19. und 20. Jahrhundert“, erklärt
der Historiker.
Im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert hatte sich unter deutschen Gelehrten die Vorstellung durchgesetzt,
die antiken Germanen seien ein besonders territoriales, heimatverbundenes Volk gewesen, das seinem angestammten
Siedlungsgebiet immer treu geblieben war und es nie verlassen hatte – eine Idee, die auf eine einseitige Interpretation
der kurz zuvor wiederentdeckten Germania des römischen Schriftstellers Publius Cornelius Tacitus zurückgeht.
Als Gegenreaktion auf dieses statische Germanenbild verfasste der Wiener Humanist und habsburgische Hofhistoriograph
Wolfgang Lazius 1557 eine Schrift mit dem Titel De gentium aliquot migrationibus („Über die Wanderungen einiger
Völker“), in der er seinen gelehrten Zeitgenossen demonstrierte, dass Migration und Wanderungen seit jeher
zum Wesen barbarischer Ethnien gehört hatten. Seit Lazius hatte das Konzept der migratio gentium, der „Wanderung
der Völker“, einen festen Platz in der europäischen Historiographie. „Die patriotische Geschichtsschreibung
des 19. und 20. Jahrhunderts stilisierte diese Idee weiter hoch, bis hin zu Bildern zeitloser, heldenhafter Tugend
samt eines ´ur-deutschen` Wandertriebes, Vorstellungen, die auf einen Schutthaufen ideologischer Geschichtskonstruktion
gehören“, betont der Nachwuchshistoriker.
Gemäß den Ergebnissen der modernen Geschichtswissenschaft „sind die Vorstellungen, die hinter dem Begriff
´Völkerwanderung` stehen, überholt. Die Wanderzüge von Goten, Vandalen, Burgundern und anderen
so genannten ´barbarischen Stämmen` vom späten 4. bis zum 6. Jahrhundert reichen nicht aus, um
den Fall Roms zu erklären. Solche Vorstellungen haben mit der historischen Wirklichkeit von Spätantike
und Frühmittelalter nichts zu tun. Die Völker, über deren weitläufige Wanderungen zeitgenössische
Chroniken berichten, sind keineswegs über Jahrhunderte dieselben geblieben, sondern haben ihre Zusammensetzung
stark geändert.“ Das bekräftigt der Wittgenstein- und ERC-Preisträger (European Research Council)
Prof. Walter Pohl vom Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
(ÖAW) in Wien. Nach dem bisherigen Forschungsstand hat es zwischen 375 und 570 n. Chr. tatsächlich vielfältige
Wanderungsbewegungen gegeben. Diese Migrationen sind allerdings keinem klar definierten Muster gefolgt. Auch die
Zusammensetzung dieser Kollektive fluktuierte.
Der Curie-Grant-Preisträger Donecker hat in Wien Geschichte und Skandinavistik studiert. Er promovierte 2010
am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz. Seit diesem Herbst ist er am Institut für Mittelalterforschung
der ÖAW tätig. Mit dem Curie-Grant an den 35-jährigen erfuhren die Leistungen des Teams eine weitere
Anerkennung. Die Wiener Gruppe für historische Ethnographie rund um Pohl leistet seit dreieinhalb Jahrzehnten
international renommierte Pionierarbeit zur wissenschaftlichen Ergründung des Frühmittelalters. Dieser
Zeitraum von ungefähr 400 bis 1000 n. Chr. gilt als Schlüsselepoche zum Verständnis unseres gegenwärtigen
Europa und stellt damit ein „Hot topic“ der internationalen historischen Forschung dar.
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