Wien (tu) - Sigrid Böhm vom Institut für Geodäsie und Geophysik berechnete im Rahmen ihrer Dissertation
den Einfluss der Gezeiten auf die Erdrotation und zeigte damit Mängel des etablierten Modells auf. Ihre Arbeit
wird nun mit dem Hannspeter-Winter-Preis der TU Wien ausgezeichnet.
Dass die Erde sich dreht, wusste bereits Kopernikus. Heute ist bekannt, dass die Drehbewegung gewissen Schwankungen
unterliegt, die man möglichst exakt kennen möchte, beispielsweise um korrekte Navigation im Weltraum
und auf der Erde zu gewährleisten. Anhand von Beobachtungsdaten aus 27 Jahren ermittelte Sigrid Böhm
unter Zuhilfenahme komplexer Software den Einfluss der Gezeitenkräfte auf die Rotationsgeschwindigkeit der
Erde und auf die Lage der Erdrotationsachse. In Kombination mit einem aktuellen Gezeitenmodell gelangen ihr damit
präzisere Prognosen, als sie das konventionelle Modell ermöglicht. Am 18. Oktober wird ihr für ihre
Arbeit der Hannspeter-Winter-Preis der TU Wien verliehen.
Und sie dreht sich doch – aber eben nicht gleichförmig
Das Rotationsverhalten unseres Planeten hat wenig mit dem einer starren Kugel gemeinsam – schließlich
ist die Erde von Wassermassen bedeckt, von einer Atmosphäre umhüllt und im Innern teilweise flüssig.
Diese beweglichen Komponenten verschieben sich regelmäßig, unter anderem als Folge der Meeresgezeiten,
die durch die Anziehungskräfte von Mond und Sonne entstehen. Solche Umverteilungen der Masse haben großen
Einfluss auf die Drehbewegung der Erde: Ebenso wie sich eine Eiskunstläuferin während einer Pirouette
langsamer oder schneller dreht, je nachdem, ob sie die Arme von sich streckt oder am Körper anlegt, bewirkt
auch eine Umverteilung von Masse in und auf der Erde eine Änderung der Rotationsgeschwindigkeit. Auch die
Achse, um die sich die Erde dreht, schwankt – es ändert sich sowohl ihre Lage im Raum als auch ihr Schnittpunkt
mit der Erdoberfläche. „Das Faszinierende an dem Forschungsgebiet ist die Vielfältigkeit der zusammenwirkenden
Mechanismen und die Beschäftigung mit den verschiedensten Komponenten des Systems Erde“, findet Sigrid Böhm.
Wie lange dauert eine Sekunde?
Die detaillierte Kenntnis über das momentane Rotationsverhalten der Erde ist für präzise Navigation,
für geodätische Messungen und nicht zuletzt für unser Zeitsystem von großer Bedeutung. „Der
Zeitbegriff war bis zur Erfindung der Atomuhren an die tägliche Umdrehung der Erde gekoppelt“, erklärt
Sigrid Böhm. „So betrachtet ist die Zeit nicht regelmäßig, sondern wird von geophysikalischen Vorgängen
und externen Kräften verändert.“ Daher ist die Sekunde heute nicht mehr als 86.400ster Bruchteil der
Taglänge definiert, sondern wird von regelmäßig laufenden Atomuhren angegeben – diese müssen
allerdings alle paar Jahre um eine Sekunde korrigiert werden, um weiterhin sinnvoll mit dem Tag-Nacht-Rhythmus
der Erde übereinzustimmen.
Verlässliche Prognosen
Im Rahmen ihrer Dissertation berechnete Sigrid Böhm aus Rohdaten von GPS-Satelliten und Langbasis-Interferometrie-Anlagen
die Reaktion der Erdrotation auf die Gezeiten. „Heutzutage ist es möglich, die Variabilität der Erdrotation
sehr präzise mit diesen geodätischen Messverfahren zu erfassen“, so die Geowissenschaftlerin. Mit ihren
Ergebnissen zeigte sie Mängel am aktuell vom Earth Rotation and Reference Systems Service (IERS) empfohlenen
Modell zur Prognose gezeitenbedingter Erdrotationschwankungen auf: „In mehreren Studien – nicht nur in meiner –
hat sich gezeigt, dass das Modell die tatsächlich beobachteten täglichen und halbtäglichen Erdrotationsschwankungen
nicht ausreichend genau beschreibt. Das kann in der Praxis zu Fehlern in anderen Größen führen,
zum Beispiel bei Positionsbestimmungen.“ Durch die Kombination der empirischen Daten mit einem aktuellen Gezeitenmodell
gelang es ihr schließlich, deutlich bessere Vorhersagen in Bezug auf gezeitenbedingte Erdrotationsschwankungen
zu treffen.
Hannspeter-Winter-Preis für hervorragende Jungwissenschaftlerinnen
Der Hannspeter-Winter-Preis wird jährlich für herausragende wissenschaftliche Leistungen im Rahmen
einer Dissertation an Absolventinnen eines Doktoratsstudiums an der TU Wien verliehen. Der mit 10.000 Euro dotierte
Forschungspreis wird von der TU Wien in Kooperation mit der BA/CA-Stiftung im Andenken an Professor Hannspeter
Winter verliehen. Sigrid Böhm promovierte im vergangenen Jahr am Institut für Geodäsie und Geophysik
der TU Wien. Ihre Dissertation verfasste sie unter Anleitung von Prof. Harald Schuh. Aktuell läuft an der
TU Wien in Kooperation mit der TU Berlin ein Projekt, bei dem – aufbauend auf den Ergebnissen der bald preisgekrönten
Arbeit –ein neues Modell für die veränderliche Erdrotation entwickelt werden soll.
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