Barbara Prammer: Parlamentarismus und Demokratie weiterentwickeln
Wien (pk) – Eine positive Bilanz über die Arbeit des Nationalrates in der gestern zu Ende gegangenen
XXIV. Gesetzgebungsperiode zieht Nationalratspräsidentin Barbara Prammer. In einer am 29.10. erschienen 104
Seiten starken, reich bebilderten Broschüre mit dem Titel "Nationalrat. Bilanz 2008-2013" werden
die LeserInnen eingeladen, eine Rückschau auf eine besonders ereignisreiche Legislaturperiode zu halten. Es
war die erste fünfjährige Legislaturperiode in der Zweiten Republik, die Abgeordneten mussten sich im
Kampf gegen die Finanz- und Wirtschaftskrise bewähren und der Nationalrat bestand zuletzt erstmals aus sechs
Fraktionen. Ein ausführlicher, graphisch gut aufbereiteter Statistikteil zeigt, dass das Nationalratsplenum
seit 2008 219 Sitzungen abgehalten hat und mit 1.513 Stunden und 35 Minuten Sitzungsdauer neue Rekordwerte erzielte.
242 der 647 Gesetzesbeschlüsse oder 37,4 % fielen einstimmig. Nur 119 Beschlüsse, also 18,4 %, fassten
die Regierungsparteien SPÖ und ÖVP ohne Zustimmung einer Oppositionspartei.
Bemühen um mehr direkte Demokratie
Die Publikation bereitet dominierende politische Themen und Höhepunkte der parlamentarischen Arbeit auf, wobei
prominente Fachleute zu Wort kommen. Zunächst geht Universitätsprofessor Theo Öhlinger unter dem
Titel "Demokratie ist ein mühsames Geschäft" der Frage nach, inwieweit Regierung und Regierungsparteien
die Zeitspanne nützen konnten, die ihnen für die Umsetzung ihres Programms zur Verfügung stand.
Dabei kommt der Verfassungsexperte, soviel sei hier verraten, zu einem differenzierten Befund. Ausführlich
informiert die Publikation auch über die Absicht, direktdemokratische Instrumente in der Verfassung auszubauen,
worüber nicht zum ersten Mal in der Zweiten Republik – und zuletzt auch mit einer gewissen Schärfe -
debattiert wurde. Ein Abschluss dieser Debatte ist dem neugewählten Nationalrat vorbehalten.
Kampf gegen die Krise
Den erfolgreichen Kampf der Abgeordneten gegen die Finanz- und Wirtschaftskrise, die Verabschiedung milliardenschwerer
Hilfs- und Konjunkturpakete sowie die Mitwirkung des Nationalrates an der Reform der finanz- und wirtschaftspolitischen
Steuerung in der Europäischen Union beleuchten Finanz- und Wirtschaftsexperten, unter ihnen der ehemalige
Gouverneur der Oesterreichischen Nationalbank, Klaus Liebscher. Hier erfährt der Leser auch von den weitreichenden
europapolitischen Weichenstellungen – Stichworte ESM und Bankenunion - , an denen die Europaausschüsse des
Parlaments bei der Stabilisierung von Eurozone und Binnenmarkt mitgewirkt haben.
Im Zeichen von Europäischer Integration und Globalisierung
Einen Paradigmenwechsel in der europapolitischen Arbeit des Parlaments registrierte der Zweite Präsident des
Nationalrates, Fritz Neugebauer, der Vorsitzende des EU-Unterausschusses. In seinem Beitrag geht es um die Umsetzung
des Vertrages von Lissabon und die Einbindung des Nationalrates in Beschlüsse des ESM. Im Interesse einer
Stärkung der demokratischen Legitimität von EU-Entscheidungen plädiert Neugebauer für ein noch
stärkeres Selbstbewusstsein und ein noch aktiveres Auftreten der Abgeordneten im Rechtssetzungsprozess der
Europäischen Union. Analysiert wird auch die wachsende Bedeutung parlamentarischer Diplomatie und die globale
Vernetzung der Parlamente im Kampf gegen Armut, Hunger und Krankheiten sowie bei der Sicherung von Welternährung,
Umweltschutz, Menschenrechten, Geschlechtergerechtigkeit und in der Sorge um das Wohl der Kinder.
Sechs Klubobleute blicken zurück
Erstmals in der Geschichte der Zweiten Republik waren im Nationalrat der letzten Gesetzgebungsperiode sechs Fraktionen
tätig. Fasst man die Bilanzen der Klubobleute zusammen, ergibt sich naturgemäß ein differenziertes
und teilweise auch kontroversielles Bild. Josef Cap (S) erinnert an die Erfolge im Kampf gegen die Wirtschaftskrise,
an Fortschritte im Bemühen um ein gerechteres Steuersystem, an die Reform des Gesundheitssystems und an die
Gesetze für mehr Transparenz, Sauberkeit und Information. Karlheinz Kopf (V) spricht von einer eindrucksvollen
Bilanz, vom Nachweis wertvoller Leistungen der MandatarInnen für Österreich und lobt die Kompromissbereitschaft,
Gesprächsfähigkeit, Beharrlichkeit und das Verantwortungsbewusstsein der MandatarInnen im Spannungsfeld
zwischen Bürgernähe Gruppeninteressen und Verantwortung für den Gesamtstaat. FPÖ-Klubobmann
Heinz-Christian Strache beklagt hingegen den Verlust politischer Selbstbestimmung durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus
und die Politik der Europäischen Zentralbank. Ihm gehe es nicht um eine marktkonforme Demokratie, sondern
um eine volkskonforme Demokratie, schreibt Strache und verlangt für eine qualifizierte parlamentarische Minderheit
das Recht, eine Volksbefragung zu verlangen und Untersuchungsausschüsse einzusetzen. Kritisch sieht auch die
Klubobfrau der Grünen, Eva Glawischnig-Piesczek, die Angst der Regierungsparteien vor einer Reform des Parlamentarismus,
vor dem Ausbau von Kontrollrechten und der Einführung von Untersuchungsausschüssen als Minderheitsrecht.
Eine negative Bilanz zieht schließlich auch BZÖ-Obmann Josef Bucher, der auf Defizite in der Wirtschaftspolitik,
Attraktivitätsverluste des Standorts, wachsende Schulden der Republik und eine stagnierende Kaufkraft der
BürgerInnen hinweist, während Robert Lugar, Klubchef des während der Gesetzgebungsperiode neu gebildeten
Klubs "Team Stronach", für seine Fraktion eine Bereicherung des politischen Spektrums in Anspruch
nimmt und deren viele Anträge, Anfragen und Wortmeldungen als Zeichen eines erfolgreichen parlamentarischen
Starts wertet.
Parlament als Schule der Demokratie - politische Bildung als Auftrag
Wie funktioniert Demokratie? Warum soll ich mich an ihr beteiligen? – Antworten auf solche Fragen werden in der
"Demokratiewerkstatt" und im halbjährlich tagenden "Jugendparlament" gesucht und gefunden.
In den vergangenen fünf Jahren hat sich auch das Internetportal "DemokratieWEBstatt" gut entwickelt
und verzeichnet seit 2011 alljährlich weit mehr als eine Million Abfragen, erfährt man in der jüngsten
Bilanzbroschüre. Der Erfolg der politischen Bildungseinrichtungen des Parlaments fand in der letzten Gesetzgebungsperiode
eine eindrucksvolle Fortsetzung: 776 Jugendliche haben seit 2008 am Jugendparlament teilgenommen und von 2007 bis
2013 besuchten 57.325 junge Menschen 2.540 Workshops in der Demokratiewerkstatt. Zuletzt wurde auch eine Reihe
spezieller Workshops mit Zeitzeugen des Holocaust und der NS-Gewaltherrschaft gestartet. Das leitet zu dem schon
traditionellen Themenschwerpunkt "Gedenkkultur" und zu der vielbeachteten Rede Ruth Klügers beim
Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Mai 2011 über - Klügers Beitrag wird in der Broschüre unter
dem Titel "Mehr als bloßes Erinnern" gewürdigt.
Offenes Parlament, Haussanierung - Verwaltung ist gefordert
Die Bilanz des Nationalrats 2008-2013 informiert auch über die engagiert weitergehenden Bemühungen um
die Öffnung des Hohen Hauses, die täglichen Führungsangebote und außergewöhnliche Beiträge
von Künstlern im Rahmen von Parlamentsveranstaltungen. Nicht zuletzt gibt die Broschüre auch Einblicke
in die Arbeit der Parlamentsdirektion, die auf die dramatischen Veränderungen in der öffentlichen Verwaltung
mit innovativen Zukunftskonzepten reagiert. Dazu gehört auch die Sanierung des Parlamentsgebäudes, denn
so prachtvoll das Bauwerk von Theophil Hansen nach wie vor ist, nach mehr als 130 Jahren sind Reparaturen unausweichlich.
Der Bedeutung des Hauses angemessen, wird diese Aufgabe mit entsprechender Sorgfalt wahrgenommen – damit der "Tempel
der Demokratie" weiterhin in all seiner Schönheit erstrahlt und einen modernen, offenen Parlamentsbetrieb
ermöglicht.
Prammers Ausblick auf eine Parlamentarismus- und Demokratiereform
"Wir können eine positive Bilanz über die XXIV. Gesetzgebungsperiode vorlegen. Sie ist kein
abschließender Befund, sondern Basis für die künftige Arbeit. Parlamentarismus muss sich ständig
weiterentwickeln, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Damit sind wir noch lange nicht am Ziel. Tatsache ist,
dass sich die Anforderungen an die Abgeordneten verändert haben, sie sind umfangreicher und komplexer geworden.
Und es gibt die Forderung nach mehr direkter Demokratie. Es wird in erster Linie Aufgabe der Fraktionen sein, sich
in der XXV. Gesetzgebungsperiode mit einer Parlamentarismus- und Demokratiereform ernsthaft auseinander zu setzen",
schreibt Nationalratspräsidentin Barbara Prammer im Vorwort zur Bilanzbroschüre des Nationalrates 2008-2013.
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