Rede des Bundespräsidenten im Wiener Stadttempel
Wien (hofburg) - NS-Terror mit Ermordungen, Zerstörungen, Verwüstungen: "Was damals im Herzen
Wiens geschah, ist eine Schande, die nicht vergessen werden kann und nicht vergessen werden darf"
Sehr geehrter Herr Oberrabbiner!
Sehr geehrter Herr Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde!
Sehr geehrter Herr Oberkantor!
Meine Damen und Herren!
Ich grüße und begrüße alle, die sich zu dieser Matinée eingefunden haben, um gemeinsam
der Verbrechen zu gedenken, die sich vor genau 75 Jahren in Wien und im ganzen sogenannten Großdeutschen
Reich ereignet haben. Also wenige Monate nachdem Österreich in so unrühmlicher Weise in dieses Großdeutsche
Reich eingegliedert wurde.
Ich danke dem Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Herrn Professor Dr. Paul Chaim Eisenberg und
dem Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Herrn Oskar Deutsch, für die Einladung, aus diesem
Anlass als Bundespräsident das Wort zu ergreifen und habe diese Einladung gern angenommen.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Die einzige Synagoge in Wien, die – geschützt durch die enge Verbauung – die Reichspogromnacht und die anschließenden
schrecklichen Ereignisse mehr oder weniger überdauert hat, ist der Wiener Stadttempel. Er ist – auch aus diesem
Grund - ein besonders bedeutsamer Gedenk- und Erinnerungsort.
Alle anderen der damals über 130 Wiener Synagogen und Bethäuser wurden in der Pogromnacht vom 9. auf
den 10. November 1938 vom nationalsozialistischen Mob in Brand gesteckt und zerstört.
Und in vielen weiteren Städten der sogenannten Ostmark gab es organisierte Übergriffe, bei denen nicht
nur Gegenstände der Religionsausübung und Kulturgut von größten Wert zerstört wurde,
sondern auch Blut geflossen ist und Menschen in unvorstellbarer Weise erniedrigt wurden.
Meine Damen ud Herren!
Im Gedenken an die damaligen Ereignisse möchte ich die Beobachtungen und Erinnerungen eines Mannes wiedergeben,
der das Novemberpogrom als Augenzeuge erlebt hat und dessen Objektivität außer Streit steht. Ich meine
den britischen Journalisten George Gedye, der die Ereignisse vor und nach dem sogenannten Anschluss vom März
1938 als Journalist in Wien beobachtete und kurz darauf in seinem Buch „Fallen Bastions“, das im Jahr 1939 auf
Englisch und einige Jahre später auf Deutsch erschienen ist, festgehalten hat. Er berichtet wie folgt:
„Von meinem Büro am Petersplatz aus konnte ich den Lieblingssport des Nazimobs beobachten: jüdische Männer
und Frauen wurden gezwungen, auf allen Vieren kriechend, den Gehsteig mit scharfen Laugen zu waschen, die ihnen
die Haut verbrannte (…)
„Arbeit für die Juden, endlich Arbeit für die Juden!“, heulte die Menge. „Wir danken dem Führer,
er hat Arbeit für die Juden geschafft! …“
Und Gedye berichtet weiter:
„In einem hohen Gebäude befindet sich die Hauptsynagoge Wiens, ein Mittelpunkt der religiösen und karitativen
Tätigkeit der Wiener Juden. Am frühen Morgen war das Gebäude von der SS besetzt worden. Dorthin
pflegten die Ärmsten der armen Juden Wiens zu kommen, um in der Ausspeisung eine Suppe zu bekommen. (…)
Sobald sie das Gebäude betreten hatten, wurden sie in die Synagoge geschleppt, wo SS-Leute herumlungerten
(…) Die Juden wurden dort gezwungen, körperliche Übungen´ zu machen. Die Alten und Schwachen, die
hinfielen oder zusammenbrachen, wurden von den Nazi auf brutalste Art mit Füßen getreten und geschlagen.
Ich sah auch, wie man zur Belustigung der Menge Juden vorführte, die man gezwungen hatte, Gewänder anzuziehen,
die die Rabbiner beim Gottesdienst trugen. So mussten sie die Straße von dem Schmutz reinigen, den grinsende
SS-Leute aus den Fenstern warfen...“
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Was vor 75 Jahren im Herzen Wiens geschah, was sich Wienerinnen und Wiener in einer Hauptstadt abendländischer
Kultur zu Schulden kommen ließen, ist eine Schande, die nicht vergessen werden kann und nicht vergessen werden
darf.
Das Novemberpogrom 1938 war aber kein singuläres Ereignis. Es hatte eine lange Vorgeschichte und es fand seine
Fortsetzung in Verbrechen, die das Novemberpogrom in Bezug auf Unmenschlichkeit, in Bezug auf die Zahl der Opfer
und in Bezug auf planmäßige, mörderische Entschlossenheit noch um ein Vielfaches übertrafen.
Erst im März diesen Jahres haben wir des so genannten Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich bei
einer großen Gedenkveranstaltung im Redoutensaal der Wiener Hofburg gedacht und ich habe bei diesem Anlass
versucht die Entwicklungen, die dazu geführt hatten, zu skizzieren.
Sehr gehrte Damen und Herren!
Die Ausschreitungen der Novembertage 1938 waren auch nicht - wie in den nationalsozialistischen Medien dargestellt
- Ausdruck spontanen Volkszorns über die Ermordung eines deutschen Diplomaten in Paris durch einen verzweifelten
17-jährigen jüdischen Emigranten, sondern wurden von der NSDAP planmäßig und in Dutzenden
deutschen Städten gleichzeitig vorbereitet und organisiert.
SS-Einheiten wurden von der Leine gelassen, und die Gestapo führte die Aufsicht.
Doch dieser Umstand befreit die Zivilgesellschaft nicht von ihrer Mitverantwortung: Die meisten Menschen in Österreich
wie in Deutschland schwiegen, schauten weg oder sympathisierten sogar mit den Tätern.
Und es waren nur sehr, sehr wenige, die damals Menschlichkeit zeigten und den Mut aufbrachten, den Opfern Mitgefühl
zu zeigen und in Einzelfällen sogar zu helfen.
Meine Damen und Herren!
Wenige Jahre nach diesen blutigen Pogromen vom November 1938, nämlich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges,
stand fest, wie entsetzlich viele Opfer die Jahre der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft allein in Österreich
gefordert hatten: 65.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder fielen dem Holocaust zum Opfer – die Erinnerung
an sie wird hier im Stadttempel im Sinne des „Zachor!“ – „Erinnere Dich!“ - wach gehalten.
Weitere 130.000 Menschen wurden vertrieben – sie mussten Heimat, Familien und Freunde, ihr ganzes bisheriges Leben
zurücklassen, um in der Fremde als Flüchtlinge zu leben. Für viele war es ein Abschied für
immer.
Gleichzeitig war eine reiche Kultur versunken, die ein ganz wichtiger Teil der österreichischen Kultur und
der Europäischen Kultur war und ist.
Meine Damen und Herren!
In den ersten Jahrzehnten nach dem Ende des Nationalsozialismus hat sich Österreich seiner Verantwortung nur
sehr zögerlich gestellt – teilweise sogar gänzlich entzogen. Allzu lange wurde auch der noch aus der
NS-Zeit stammende, verharmlosende Begriff der sogenannten Reichskristallnacht für die Novemberprogrome verwendet.
Erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten konnte sich – im Zuge eines nicht immer einfachen Prozesses der Bewusstmachung
– das klare Bekenntnis zur Mitverantwortung von Österreicherinnen und Österreichern für das nationalsozialistische
Unrecht durchsetzen.
Wenn wir im März und im November des Jahres 2013 ganz besonders dunkler Stunden der österreichischen
Vergangenheit gedenken und dabei auf Ereignisse vor 75 Jahren zurückblicken, so tun wir dies im Bewusstsein
der Verpflichtung, sich zu erinnern und aus der Vergangenheit zu lernen.
Nehmen wir den heutigen Gedenktag zum Anlass, uns vor den Opfern des Novemberpogroms vor 75 Jahren gemeinsam zu
verneigen und ihrer zu gedenken.
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