EU-Kommission will mehr Verfahrensgarantien für EU-Bürger
Brüssel (ec) - Die Europäische Kommission hat am 27.11. ein Legislativpaket vorgelegt, das den
EU-Bürgern bessere Verfahrensgarantien in Strafverfahren bieten soll. Allen Unionsbürgern soll EU-weit
das Recht auf ein faires Verfahren garantiert werden. Die heutigen Vorschläge sollen die Achtung der Unschuldsvermutung
und das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung sowie besondere Verfahrensgarantien für Kinder gewährleisten,
die einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt werden. Darüber hinaus sollen Verdächtige und Beschuldigte
bereits in einem frühen Stadium des Strafverfahrens vorläufige Prozesskostenhilfe erhalten können
ebenso wie Personen, gegen die ein Europäischer Haftbefehl erlassen wurde. Die neuen Vorschläge markieren
eine weitere wichtige Etappe im Bereich der Verfahrensrechte. Sie ergänzen drei bereits erlassene EU-Richtlinien
zum Recht auf Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen, zum Recht auf Belehrung und Unterrichtung und zum Recht
auf Zugang zu einem Rechtsbeistand. Diese Vorschläge gewährleisten allen Betroffenen das Recht auf ein
faires Verfahren und dienen so dem Grundsatz der Waffengleichheit. Sie werden, sobald sie geltendes Recht sind,
zur Stärkung des Vertrauens in die Strafrechtspflege der Mitgliedstaaten und damit zu einem funktionierenden
europäischen Rechtsraum beitragen.
„Recht muss nicht nur geübt werden, sondern dies muss auch nach außen erkennbar sein. Als ich 2010 als
erstes Kommissionsmitglied das Justizressort übernahm, versprach ich eine Neuausrichtung unserer Justizpolitik.
Vor 2010 hielt Justitia zwei Schwerter in den Händen, aber keine Waagschale. Seitdem hat die Kommission Maßnahmen
ergriffen, um die Rechte und Grundfreiheiten unserer Bürger zu stärken und die Justizpolitik neu auszutarieren.
Die Europäische Kommission steht zu ihrem Wort: Wir führen für alle Bürger unionsweit geltende
Verfahrensrechte ein. Wir sind dabei, einen echten europäischen Rechtsraum zu errichten“, so Vizepräsidentin
und EU-Justizkommissarin Viviane Reding. „Die heutigen Vorschläge stellen sicher, dass unsere Bürger
in Situationen, in denen sie Schutz besonders dringend benötigen, Prozesskostenhilfe in Anspruch nehmen können,
dass für Kinder, die unter Tatverdacht stehen, besondere Verfahrensgarantien gelten und dass die Unschuldsvermutung
in ihrem Kern überall in der EU beachtet wird. Unionsbürger müssen darauf vertrauen können,
dass sie auf ihren Reisen innerhalb der EU ähnlich geschützt sind wie in ihrem Heimatstaat.“
Das aktuelle Legislativpaket enthält fünf Vorschläge:
Eine Richtlinie zur Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der
Verhandlung in Strafverfahren: Bürger, die von der Polizei oder der Justiz einer Straftat verdächtigt
oder beschuldigt werden, können sicher sein, dass die Unschuldsvermutung für sie gilt. Im Einzelnen bedeutet
das, dass sie 1) vor einer rechtskräftigen Verurteilung in öffentlichen Erklärungen und amtlichen
Beschlüssen nicht als schuldig dargestellt werden dürfen; dass 2) die Beweislast bei der Staatsanwaltschaft
liegt und Zweifel dem Verdächtigen oder Beschuldigten zugutekommen; dass 3) das Aussageverweigerungsrecht
garantiert ist und nicht gegen den Verdächtigen oder Beschuldigten verwendet werden darf, um eine Verurteilung
zu erreichen, und dass 4) der Beschuldigte das Recht hat, bei der Verhandlung anwesend zu sein (siehe Erläuterungen
im Anhang).
Eine Richtlinie über besondere Verfahrensgarantien für Kinder, die einer Straftat verdächtigt oder
beschuldigt werden: Kinder, die aufgrund ihres Alters besonderen Schutz benötigen, müssen in allen Phasen
des Strafverfahrens durch einen Rechtsbeistand vertreten sein. Dies bedeutet, dass Kinder auf ihr Recht auf Unterstützung
durch einen Rechtsbeistand nicht verzichten können, da sie andernfalls Gefahr laufen würden, die Folgen
ihres Handelns nicht zu verstehen. Weitere Verfahrensgarantien umfassen das Recht, umgehend über die Kindern
zustehenden Rechte informiert zu werden, das Recht, von den Eltern (oder anderen geeigneten Personen) unterstützt
zu werden, das Recht, nicht öffentlich befragt zu werden, das Recht auf medizinische Untersuchung und bei
Freiheitsentzug das Recht auf von Erwachsenen getrennte Unterbringung.
Eine Richtlinie über das Recht auf vorläufige Prozesskostenhilfe für Personen, die einer Straftat
verdächtigt oder beschuldigt werden, und für Personen, gegen die ein Europäischer Haftbefehl erlassen
wurde: Verdächtige oder Beschuldigte sollen bereits in einem frühen Stadium des Strafverfahrens, wenn
sie besonders schutzbedürftig sind (vor allem, wenn ihnen die Freiheit entzogen ist), Prozesskostenhilfe erhalten.
Auch Personen, die auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls festgenommen wurden, sollen Prozesskostenhilfe
in Anspruch nehmen können (siehe Erläuterungen im Anhang).
Diese Legislativvorschläge werden durch zwei Empfehlungen der Kommission an die Mitgliedstaaten ergänzt:
- Eine Empfehlung zu Verfahrensgarantien in Strafverfahren für verdächtige
oder beschuldigte schutzbedürftige Personen: Schutzbedürftige Personen (z. B. Menschen mit einer körperlichen
oder geistigen Behinderung) müssen als solche erkannt und anerkannt werden, damit ihre besonderen Bedürfnisse
im Strafverfahren berücksichtigt werden können. Wenn die Betroffenen dem Verfahren nicht folgen können
oder die Folgen ihres Handelns (z. B. Ablegen eines Geständnisses) nicht verstehen, führt dies zu einer
„Ungleichheit der Waffen“ im Verfahren. Für schutzbedürftige Verdächtige oder Beschuldigte werden
besondere Verfahrensgarantien empfohlen, darunter die zwingende Beiordnung eines Rechtsbeistands, die Unterstützung
durch eine geeignete dritte Person und medizinische Unterstützung.
- Eine Empfehlung zum Recht auf Prozesskostenhilfe in Strafverfahren für Verdächtige
oder Beschuldigte: Für die Prüfung des Anspruchs auf Prozesskostenhilfe werden gemeinsame Kriterien festgelegt.
Ein weiteres Anliegen ist die Sicherung der Qualität und Leistungsfähigkeit der im Rahmen der Prozesskostenhilfe
erbrachten Dienstleistungen und deren Verwaltung.
Hintergrund
Jedes Jahr werden in der EU über 9 Millionen Strafverfahren eingeleitet. Am 9. März 2010 unterbreitete
die Kommission den ersten einer Reihe von Vorschlägen zur Festlegung gemeinsamer EU-Vorschriften für
Strafverfahren. Danach sollten die EU-Länder dafür sorgen, dass Verdächtige und Beschuldigte umfassende
Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen in Anspruch nehmen können. Das Europäische Parlament und die
Mitgliedstaaten im Rat haben diesen Vorschlag in der Rekordzeit von nur neun Monaten erlassen. Statt der üblichen
zwei Jahre hatten die EU-Mitgliedstaaten drei Jahre Zeit, diese Vorschriften umzusetzen, damit die Behörden
die erforderlichen Übersetzungen bereitstellen konnten.
Die Richtlinie über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren garantiert
den Bürgern das Recht auf Verwendung ihrer eigenen Sprache in Verhandlungen und Vernehmungen in allen Abschnitten
eines Strafverfahrens vor einem Gericht der EU. Darüber hinaus haben sie Anspruch auf Information und Rechtsberatung
in ihrer eigenen Sprache.
Eine zweite Richtlinie über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren wurde 2012 angenommen,
und 2013 folgte die Richtlinie über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand und über das Recht auf
Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs. Die heutigen Vorschläge
sind Teil des Fahrplans zu den Verfahrensrechten, der zum Stockholmer Programm gehört.
Ohne gemeinsame Mindestvorschriften, die ein gerechtes Verfahren garantieren, würden Justizbehörden eine
Person nur ungern an ein Gericht in einem anderen Land überstellen. Das kann zur Folge haben, dass EU-Vorschriften
zur Verbrechensbekämpfung – wie der Europäische Haftbefehl – nicht in vollem Umfang angewandt werden.
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