Kindliches Verstehen von alternative Ereignisverläufen
Salzburg (universität) - Darüber nachzudenken, wie die Gegenwart wäre, wenn ein Ereignis
in der Vergangenheit anders verlaufen wäre, wird in der Fachsprache als "kontrafaktisches Denken"
bezeichnet. In einem vom Wissenschaftsfonds FWF unterstützten Forschungsprojekt wird nun untersucht, wie sich
diese Art des Denkens entwickelt und was kontrafaktisches Denken von anderen Arten des Schlussfolgerns unterscheidet.
In weiterer Folge soll untersucht werden, in welchem Zusammenhang kontrafaktisches Denken mit Emotionen wie Bedauern
und Reue steht und ob es eine zentrale Rolle in der Entwicklung von wissenschaftlichem Denken spielt.
Das Nachdenken darüber, was unter anderen Voraussetzungen hätte passieren können - das "Hättiwari"
- ist für Erwachsene Alltag. Für Kinder ist das nicht so. Sie erlernen diese Fähigkeit erst im Laufe
ihrer Entwicklung. Was genau Kinder verstehen müssen, um kontrafaktisch zu denken, steht nun im Zentrum eines
vom FWF unterstützten Projekts.
Fall-Vermögen
Bei Erwachsenen läuft das Durchdenken von Alternativen im Allgemeinen nach folgendem Schema ab: "Wir
nehmen ein reales Ereignis, zum Beispiel einen Autounfall, und bauen eine Annahme ein, die nicht den Fakten entspricht
(kontra-faktisch); wir nehmen zum Beispiel an, was gewesen wäre, wenn wir langsamer gefahren wären. In
weiterer Folge verändern wir alle Fakten in der Ereigniskette, die logisch und kausal mit der Annahme übereinstimmen;
zum Beispiel, dass wir dann nicht ins Schleudern gekommen wären", erläutert Projektleiterin Dr.
Eva Rafetseder vom Department of Cognition and Development der Universität Salzburg. Die Vorstellung einer
solchen minimal veränderten Parallelwelt, in der ein einziger Aspekt dem Verlauf des aktuellen Ereignisses
eine andere Wendung geben hätte können, beginnen Kinder erst ab dem 6. Lebensjahr zu verstehen.
Im ersten Teil des Projekts ist eine Reihe von Studien mit insgesamt 280 Kindern geplant. Dabei soll geklärt
werden, wie vor allem jüngere Kinder kontrafaktische Fragen, zum Beispiel: "Wenn Susi die Schuhe ausgezogen
hätte, wäre der Fußboden dann dreckig oder sauber?", interpretieren und verstehen. Untersuchungen
mit Vergleichsgruppen englischsprachiger Kinder sollen es ermöglichen, sprach- und schultechnische Besonderheiten
dieses Denkens zu identifizieren.
Späte Reue
Doch das Projekt geht weit über die Klärung des Zeitpunktes dieser Entwicklung hinaus. In einem weiteren
Schritt soll das Aufkommen von Gefühlen, die die Entwicklung des kontrafaktischen Denkvermögens begleiten,
untersucht werden. "Im Allgemeinen wird angenommen, dass kontrafaktische Gedanken zu Emotionen wie Bedauern
und Reue führen. Wir können darüber nachdenken, wie viel besser unser Leben jetzt wäre, wenn
wir damals die richtige Entscheidung getroffen hätten. Und wir können diese Entscheidung bereuen. Bisherige
Studien deuten auf eine sehr frühe Entwicklung von Bedauern und Reue hin; noch bevor sich die Fähigkeit
zu kontrafaktischem Denken entwickelt. Wir wollen diesen Widerspruch nun genauer untersuchen", so Dr. Rafetseder.
In welcher Beziehung kontrafaktisches Denken mit Fühlen steht, wird daher in einem zweiten Teil des Projekts
mit insgesamt 400 Kindern untersucht. Es wird vermutet, dass Kinder schon sehr früh bedauern, wenn Konsequenzen
für sie negativ sind, zum Beispiel, wenn sie weniger bekommen als ein anderes Kind. Dazu ist jedoch kein kontrafaktisches
Denken notwendig. Das Vermögen, eigene Entscheidungen zu bedauern ("wenn ich das doch anders gemacht
hätte"), wird jedoch erst später, ab circa 6 Jahren, vermutet, da als Basis dafür kontrafaktisches
Denken angenommen wird. Elektrophysiologische Messungen sollen dabei helfen, das Erleben kontrafaktischer Emotionen
zu erheben, da vor allem jüngere Kinder diese oft nur vage verbal ausdrücken können.
Der dritte Teil des Projekts widmet sich der Untersuchung, in welcher Weise kontrafaktisches Denken für wissenschaftliches
Denken notwendig ist: "Wissenschaftliches Denken bedeutet, Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge herzustellen.
Dabei ist es, ähnlich dem Bilden der minimal veränderten Welt beim kontrafaktischen Denken, notwendig,
eine Annahme zu machen ("wenn x die Ursache ist"), um dann logisch sowie kausal im Einklang stehende
Schlussfolgerungen zu ziehen ("dann würden wir y beobachten")", so Dr. Rafetseder.
Insgesamt werden in 260 Stunden reiner Testzeit 780 ProbandInnen auf ihre Fähigkeiten des kontrafaktischen
Denkens und Fühlens untersucht. Die geplanten zehn Studien des FWF-Projekts werden so Aufschluss über
den Entwicklungsablauf dieses zentralen menschlichen Vermögens geben.
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