Wien: Diskussion über den Ersten Weltkrieg und seine Folgen bis heute - Hahn: Gesamteuropäisches
Gedenken unrealistisch - Bünker: Instrumentalisierung der Religion durch Politik war Epochenbruch
Wien (epdö) - Kam es mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 zu einem Epochenbruch? Welche Rolle
spielten Religionen vor und während des Kriegs? Und welche Lehren lassen sich aus dem Ersten Weltkrieg ziehen?
Mit diesen Fragen beschäftigte sich eine hochkarätige Runde am Abend des 20.02. in Wien, zu der Michael
Bünker (Bischof der Evangelischen Kirche A.B. in Österreich und Generalsekretär der Gemeinschaft
Evangelischer Kirchen in Europa - GEKE), Johannes Hahn (EU-Kommissar für Regionalpolitik und Ehrenpräsident
des Rings Österreichischer Bildungswerke), Arnold Suppan (Österreichische Akademie der Wissenschaften)
und Gergely Pröhle (Stellvertretender Staatssekretär für bilaterale Beziehungen im ungarischen Außenministerium)
eingeladen waren.
Einen Bruch vieler Netzwerke sieht Arnold Suppan als Konsequenz des Ersten Weltkriegs, intellektuell wie auch wirtschaftlich.
"Nach dem Ersten Weltkrieg war in Mitteleuropa eine personelle wie materielle Erschöpfung eingetreten."
Noch bis heute versuche die Europäische Union, diese Netzwerke von neuem wieder zusammenzuknüpfen, dies
sei aber bis heute nur bruchstückhaft gelungen. "Vor dem Ersten Weltkrieg brauchte man mit dem Zug von
Wien ins ukrainische Lemberg sechs Stunden, heutzutage braucht man mindestens zehn Stunden", schilderte Suppan
ein anschauliches Beispiel.
Von einem moralischen Epochenbruch sprach Gergely Pröhle: "Ab 1914 kam es zu einer Brutalität, die
es im modernen Zeitalter davor so nicht gab. Vorher war es undenkbar, dass ein 'christliches Europa' und der aufgeklärte
Mensch zu so einer Brutalität in der Lage sind." Diese Erlebnisse hätten den Begriff eines "christlichen
Europas" unglaubwürdig gemacht, so der Stellvertretende Staatssekretär.
In der Instrumentalisierung der Religion durch die Politik sieht Bischof Michael Bünker einen Epochenbruch.
Der Krieg sei 1914 von allen Kirchen begrüßt worden, räumte Bünker ein. Begriffe aus dem religiösen
Repertoire, etwa die Rede von einem "gottgewollten Krieg" und von "Kreuzzügen", seien
aber von allen Seiten verwendet worden. "Wenn politische Fragen religiös überhöht werden, ist
das sicher ein Versagen der Kirchen. Aber ist es nicht auch ein Versagen der Politik?" Suppan ergänzte:
"Religionsführer haben zwar den Krieg begrüßt, am Ausbruch des Krieges haben sie aber nicht
mitgewirkt. Nichtsdestotrotz haben alle - vom Papst abgesehen - Waffen gesegnet. An den Fronten waren Pfarrer,
Priester, Imame und Feldrabbiner." EU-Kommissar Johannes Hahn erinnerte daran, dass damals auch führende
Intellektuelle wie etwa Sigmund Freud für einen Krieg Stimmung gemacht hätten.
Ein Dilemma sahen die Diskutanten teilweise bezüglich des gemeinsamen Erinnerns an die Geschehnisse von 1914.
"Was tun wir mit dem Ersten Weltkrieg?", fragte Pröhle. "Es ist der Versuch da, alles mit einer
'Versöhnungssauce' zu übergießen und über wichtige Dinge nicht zu reden", so das kritische
Urteil. Aus seiner Sicht sei die zentrale Frage, ob staatliche Souveränität oder das Selbstbestimmungsrecht
der Völker wichtiger sei, bis heute nicht geklärt. Auch die Europäische Union habe hier noch keine
Lösung herbeigeführt. Für eine engere Zusammenarbeit der europäischen Länder plädierte
hingegen EU-Kommissar Hahn. Die Union sei ein Prozess auf Basis freiwilliger Zusammenarbeit. Zwar gäbe es
Probleme und Optimierungsbedarf, aber "aktuell arbeiten in der EU 28 unterschiedliche Länder zusammen,
und dafür funktioniert es halbwegs gut". Die Nationalitätenfrage werde aber auch in Westeuropa an
Bedeutung gewinnen, zeigte sich Suppan mit Blick nach Schottland, wo heuer ein Referendum über den Verbleib
bei Großbritannien ansteht, überzeugt. Insofern müsse der Blick auch auf die einzelnen Regionen
gerichtet werden, nicht nur auf die Nationalstaaten. In den Referenden etwa in der Schweiz, wo sich eine knappe
Mehrheit für strengere Regeln bei der Zuwanderung aussprach, oder in Schottland kämen einerseits Ängste
der Menschen zum Ausdruck, andererseits auch der mangelnde Wille zur Solidarität, sagte Hahn. "Die Katalanen
wollen sich von Spanien trennen, weil sie sich als Nettozahler sehen!"
Für Pröhle zeigt das Abstimmungsergebnis in der Schweiz die Angst der Bevölkerung, die eigene Identität
zu verlieren. "Wir betrachten den Nationalismus als prämodern. Modern hingegen sei die Auflösung
nationaler Identitäten. Das ist eines der großen Luftschlösser, die wir in der Europäischen
Union gebaut haben." Pröhle erinnerte an ein Wort der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, wonach
"multi-kulti" gestorben sei, und prognostizierte: "Bei den Europaparlamentswahlen am 25. Mai werden
wir die nächste Ohrfeige erhalten, wenn die europaskeptischen Parteien in den reichen Ländern zulegen
werden." Dass ein Zusammenwirken von Menschen mit unterschiedlicher Kultur und Religion möglich sei,
betonte Suppan. In den vergangenen Jahrzehnten hätte sich hier viel getan und die Religionen hätten einen
wichtigen Beitrag dazu geleistet. Bischof Michael Bünker erinnerte in diesem Zusammenhang an das GEKE-Projekt
"Healing of Memories", das zur Versöhnung in Rumänien zwischen Kirchen, Kulturen und Religionen
beigetragen habe, sowie an die Rolle der Evangelischen Kirchen im Donauraum. "Dort leben zwar unter 115 Millionen
Menschen nur rund acht Millionen Protestanten. Aber es handelt sich um eine qualifizierte Minderheit, die etwa
diakonisch viel leistet." Ein gemeinsames, gesamteuropäisches Gedenken anlässlich des Ersten Weltkriegs
scheint für Hahn unrealistisch. Zu unterschiedlich seien die Sichtweisen auf dieses Ereignis, auch was die
Bedeutung für den eigenen Staat betrifft, so der EU-Kommissar.
Die Diskussion wurde von der Evangelischen Akademie Wien in Kooperation mit dem Ring Österreichischer Bildungswerke
veranstaltet. Durch den Abend führte ORF-Religionsredakteurin Maria Katharina Moser.
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