Wien (vetmeduni) - Ob das Verhalten von Tier und Mensch genetisch bestimmt ist oder im Laufe des Lebens erlernt
wird, ist eines der spannendsten Themen der Evolutionsbiologie. Forschende der Vetmeduni Vienna haben herausgefunden,
dass einige VerhaltensforscherInnen bei der Interpretation ihrer Daten bisher in zwei statistische Fallen getappt
sind. Ob Vögel eher in kleinen oder größeren Kolonien brüten, war bis vor kurzem noch der
Genetik zugeschrieben. Jedoch könnten die Ergebnisse auch zufällig entstanden sein. Der Aufruf zur Neuinterpretation
alter und neuer verhaltensbiologischer Studien wurde im Journal Scientific Reports veröffentlicht.
Viele Tierarten, insbesondere Vögel, haben die Wahl zwischen einem Leben in größeren oder kleineren
Gruppen. Beide Lebensformen bringen Vor- und Nachteile mit sich. Während es in größeren Kolonien
eher zu aggressiven Konflikten untereinander und zur Übertragung von Krankheiten kommen kann, sind kleinere
Kolonien weniger mit Parasiten belastet, jedoch gibt es dort auch weniger Nahrung für die Gemeinschaft.
Schwalbenstudie neu interpretiert
Die Idee, dass die Entscheidung für ein Leben in der Großfamilie oder der Kleinfamilie, insbesondere
bei Vögeln, genetisch festgelegt ist, gewann im Jahr 2000 große Akzeptanz. Damals veröffentlichte
das Forscherpaar Charles und Mary Brown einen Artikel, in dem sie Daten aus einem Feldversuch mit Fahlstirnschwalben
interpretierten. Diese Vögel leben von Natur aus in unterschiedlich großen Gruppen. Einige Individuen
dieser amerikanischen Schwalbenart scheinen resistenter gegen Nestparasiten zu sein als andere und vertragen deshalb
die größere Parasitenbelastung in den Großgruppen. Auch das Nahrungsangebot ist in Großgruppen
reicher, da größere nachbarliche Gemeinschaften Insektenschwärme besser verfolgen können.
In ihrem Experiment untersuchten die Browns insgesamt 2.000 Jungvögel. Die Forschenden tauschten frisch geschlüpfte
Küken aus kleinen Kolonien mit Küken aus großen Kolonien und ließen die Jungvögel bei
den „fremden“ Eltern aufwachsen. Als die umgesiedelten Vögel dann nach Jahren selbst Nester bauten, um zu
brüten, analysierten die Forschenden, welche Gruppengrößen die Tiere wählten. Es zeigte sich,
dass Schwalben, die in großen Gruppen zur Welt gekommen waren und in kleinen Gruppen aufgezogen wurden, selber
wieder die Großgruppe als Lebensform bevorzugten. Das genaue Gegenteil passierte mit der anderen Gruppe.
Schwalben aus Kleingruppen, die jedoch in Großgruppen aufwuchsen, brüteten ihrerseits in Kleinkolonien.
Kurz gesagt, es sah so aus, als würde die Wahl der Lebensform vererbt und somit genetisch bedingt sein.
Statistischer Fehler entdeckt
Was wäre jedoch der evolutionäre Vorteil eines Gens, das die Wahl der Gruppengröße bestimmt?
Der Verhaltensforscher Richard Wagner vom Konrad-Lorenz-Institut für Vergleichende Verhaltensforschung und
Erstautor Étienne Danchin von der Universität Toulouse vermuteten, dass die Ergebnisse der Studie durch
den verwendeten methodischen Ansatz verfälscht worden sein könnten. Gemeinsam mit Eric Wajnberg, einem
Populationsgenetiker vom Institut INRA in Sofia, berechneten sie die Originaldaten aus dem Experiment der Browns
neu und fanden heraus, dass die Ergebnisse genauso per Zufall hätten entstehen können.
Werte nahe dem Durchschnitt sind wahrscheinlicher als Extremwerte
Das Problem ist größtenteils auf ein statistisches Phänomen, das als “Regression zur Mitte”
bekannt ist, zurückzuführen. Sir Francis Dalton, der Cousin von Charles Darwin, hat dieses Problem bereits
im 19. Jahrhundert beschrieben. Es handelt sich um einen Effekt, nachdem auf außergewöhnlich hohe oder
niedrige Messergebnisse mit hoher Wahrscheinlichkeit „normalere“ Werte folgen.
Im Experiment der Browns lag gerade hier der Fehler. Vögel, die von kleine in große Kolonien übersiedelt
wurden, suchten sich später selber kleinere Kolonien für ihre Brut. Statistisch gesehen, liegen diese
kleineren Gruppen aber dann auch der durchschnittlichen Gruppengröße näher. Und genauso verhält
es sich umgekehrt mit der anderen Gruppe. Die Ergebnisse wären also auch ohne Bezug zu genetischen Faktoren
entstanden.
Wagner und Danchin fanden außerdem noch einen weiteren Fehler. Das zweite Problem bezieht sich auf einen
Fehlschluss bezüglich räumlich strukturierter Daten und wurde 1984 von dem Forscher Arie van Noordwijk
aufgedeckt. Es besagt, dass Individuen, die nicht die gleichen Wahlmöglichkeiten bezüglich der Orte haben,
die sie aufsuchen können, auch nicht miteinander verglichen werden können. In der Studie der Browns hatten
die miteinander verglichenen Vogelgruppen nicht dieselben Möglichkeiten.
Eine Frage des Studiendesigns
Nach der Neuberechnung der Studienergebnisse gilt es, viele bereits veröffentlichte Daten noch einmal
zu überdenken. Vor allem die Rolle der Genetik könnte in der Verhaltensbiologie bislang in vielen Fällen
falsch interpretiert worden sein. “Uns überraschte, dass genau jenes experimentelle Design, das häufig
in diesem Zusammenhang verwendet wird, den Trugschluss der „Regression zur Mitte“ erzeugt. Selbst die am sorgfältigsten
gestalteten Studien können unter diesem Problem leiden. Die Ergebnisse werden so bedeutungslos", warnt
Wagner.
Die WissenschafterInnen schlagen auch eine Lösung für das Problem vor. Werden Gruppen miteinander verglichen,
die dieselben Wahlmöglichkeiten haben (im Falle der Schwalben müssten alle Küken von einer in eine
andere Kolonie übersiedelt werden), so wären die Forschenden mit ihrer Interpretation auf der sicheren
Seite.
Der Artikel „Avoiding pitfalls in estimating heritability with the common options
approach“ von Étienne Danchin, Éric Wajnberg und Richard H. Wagner erschien vor kurzem im Journal
Scientific Reports.
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