Evaluierungsbericht spricht von noch zurückhaltender Anwendung
durch die Staatsanwaltschaften
Wien (pk) – Mit dem am 1.1.2006 in Kraft getretenen Verbandsverantwortlichkeitsgesetz (VbVG) wird erstmals
in Österreich eine strafrechtliche Verantwortung für juristische Personen rechtlich verankert. Wie aus
einer nun dem Parlament vorliegenden ersten Evaluierungsstudie hervorgeht, entfalten die neuen Bestimmungen durchaus
Präventivwirkung und fördern bei den Unternehmen einen Trend zur "Steuerung durch Selbststeuerung".
Hoher Aufwand, begrenzte Ressourcen, fehlende praktische Erfahrung, aber auch geringe "Erfolgsaussichten"
von Verbandsverfahren haben allerdings dazu geführt, dass das Gesetz bislang seitens der Staatsanwaltschaften
noch eher zurückhaltend angewendet wurde.
Strafrechtliche Verantwortung juristischer Personen für Fehlverhalten ihrer Organe
Mit dem VbVG beschritt Österreich Neuland, wurde darin doch erstmals die Strafbarkeit juristischer Personen
(und diesen gleichgestellter Personenhandelsgesellschaften) eingeführt, die nunmehr unter bestimmten Voraussetzungen
für Fehlverhalten ihrer Organe auch kriminalrechtlich einzustehen haben. Damit soll Phänomenen "organisierter
Unverantwortlichkeit" und systemisch bedingter Kriminalität in arbeitsteiligen unternehmerischen Strukturen
begegnet werden. Anknüpfungspunkt für die strafrechtliche Zurechnung bilden dabei nicht nur strafbare
Handlungen sogenannter Entscheidungsträger, sondern bei entsprechendem Organisationsverschulden auch rechtswidrige
Taten einfacher MitarbeiterInnen. Unternehmen – ob börsennotierte Aktiengesellschaften oder KMUs, Weltkonzerne
oder Ein-Personen-GmbHs – müssen seitdem der Gefahr einer strafrechtlichen Sanktionierung ins Auge sehen.
Anzahl der VbVG-Verfahren bisher noch relativ gering
Wie die von Walter Fuchs, Reinhard Kreissl, Arno Pilgram und Wolfgang Stangl erstellte Evaluierungsstudie des Instituts
für Rechts- und Kriminalsoziologie nun veranschaulicht, machen im Rahmen der justiziellen Tätigkeit die
Verfahren nach dem VbVG nur einen sehr geringen Teil aus. So wurde im Untersuchungszeitraum zwischen 1.1.2006 und
31.12.2010 in 528 Geschäftsfällen zumindest phasenweise der Vorwurf einer Verfehlung im Sinn des VbVG
formell dokumentiert und somit auch eine juristische Person verfolgt. Hinter diesen Geschäftsfällen stehen
300 bis 350 Verfahren mit im Allgemeinen sowohl juristischen als auch natürlichen Personen als Beschuldigten.
Im Erhebungszeitraum hat die Anzahl der Verfahren allerdings jedes Jahr zugenommen.
Bei den Verfahren gegen Verbände zeichnet sich mit 9 % ein im Vergleich zu den übrigen Fällen (1
%) ein relativ häufiges amtswegiges Einschreiten durch die Staatsanwaltschaft (StA) ab. Die Anzeigen gegen
Verbände werden auch zu drei Vierteln (74 %) unmittelbar bei der StA eingebracht und nur in 13 % bei der Polizei.
Der StA kommt insofern bei der Initiierung und Steuerung von Verbandsstrafverfahren eine deutlich größere
Rolle zu, wenngleich die Initiative auch in diesem Bereich in erster Linie von "außen" kommt. Anzeigen
stammen hier vergleichsweise oft von anderen Behörden (38 %) – insbesondere von den Arbeitsinspektoraten –
und von geschädigten juristischen Personen (28 %), relativ selten von geschädigten Privatpersonen (26
%). Obwohl die absolute Anzahl der Verfahren gering ist, trifft sie verschiedene Wirtschaftsbereiche in unterschiedlichem
Ausmaß. Überdurchschnittlich betroffen sind jedenfalls Unternehmen aus dem Banken-, Finanz- und Versicherungswesen,
aber auch für große Unternehmen der Verkehrs- und der Bauwirtschaft schafft das VbVG ein reales Verfahrensrisiko.
Das Spektrum der Anlassdelikte für eine Verfolgung nach dem VbVG ist, wie der Bericht aufzeigt, extrem breit.
Den größten, wenn auch rückläufigen Anteil stellen Vermögensdelikte (vor allem vom Typus
Betrug und Untreue), gefolgt von immer öfter geahndeten Finanz-, Steuer- und sonstigen nebenstrafrechtlichen
Wirtschaftsdelikten und fahrlässigen Körperverletzungs- und Tötungsdelikten. Daneben sind in Einzelfällen
Umwelt- und Gemeingefährdungsdelikte, aber auch Straftaten gegen die Rechtspflege, Urkunden- und Amtsdelikte
Anknüpfungspunkte für VbVG-Verfahren.
Die meritorischen Erledigungen in VbVG-Verfahren betrafen 255 juristische und 223 natürliche Personen. Das
erweiterte Ermessen der Staatsanwaltschaft nach § 18 VbVG findet seinen Niederschlag in einer überdurchschnittlich
hohen Quote an Verfahrenseinstellungen, sofern es um juristische Personen als Beschuldigte geht. Auf insgesamt
45 registrierte Strafanträge gegen juristische Personen im Beobachtungszeitraum kommen 25 urteilsmäßige
gerichtliche Erledigungen, davon die Hälfte in Form von Freisprüchen.
Hoher Aufwand und geringe "Erfolgsaussichten" führen zu zurückhaltender Anwendung
Die zurückhaltende Anwendung des VbVG wurde dabei von den meisten Staatsanwälten mit dem höheren
Aufwand und der geringen "Erfolgsaussicht" eines Verbandsverfahren begründet. Dazu kommen die immer
noch mangelnden Arbeitsbehelfe und Judikate sowie die im Vergleich zu den im allgemeinen gut ausgestatteten "Gegnern"
(Beschuldigten) begrenzten Ressourcen der Behörden und die fehlende praktische Erfahrung, Spezialisierung
und Routine. Die Erfolgschancen der VbVG-Anwendung werden aber auch durch den Umstand gemindert, dass Straftaten
im Wirtschaftsleben nicht selten im Dunstkreis von Schein- und Pleitefirmen geschehen, gibt die Studie zu bedenken.
VbVG schafft Aufgaben und Marktchancen für Unternehmensberater
Ungeachtet der begrenzten Anwendung des VbVG konnte die Studie bereits konkrete Wirkungen des Gesetzes festmachen.
So schafft das VbVG Aufgaben und Legitimation für Interessenvertretungen und Fachverbände im Bereich
der Wirtschaft. Es erhöht die Marktchancen für Anbieter von Risikoanalysen und Versicherungen, Unternehmensberatungen
und Rechtsdienstleistungen. Das Gesetz stärkt darüber hinaus die Position von Strafjuristen bzw. –verteidigern
auf diesem Gebiet und erhöht die strategische Stellung von internen Rechtsbeauftragten, Qualitäts- und
Risikomanagern von Unternehmen.
Neues Gesetz entfaltet Präventivwirkung in den Unternehmen
Die Studie spricht aber auch von Wirkungen, die das VbVG in Unternehmungen unabhängig von real anhängigen
Verfahren und Ermittlungen entfaltet. Das Gesetz fördert dort vor allem einen Trend zur "Steuerung durch
Selbststeuerung" oder zu "regulierter Autonomie". Große Unternehmen sehen sich mit einer
Vielzahl von nationalen und internationalen gesetzlichen Regulativen und privatrechtlich vereinbarten Regelwerken
konfrontiert, denen gemeinsam ist, dass sie nicht nur materiellrechtliche Vorgaben betreffen, sondern zunehmend
auch darauf abzielen, Kontrollaufgaben in die Verantwortung der Unternehmen zu übertragen. Zu diesem Typ von
Regulativen zählt das VbVG, soweit es die Nicht-Wahrnehmung von Selbstkontrolle und Präventionsaufgaben
in der Verbandsorganisation sanktioniert, erklärt die Studie.
Diese Präventivwirkung variiert je nach Art und Branche des Unternehmens. Von der symbolischen Wirkung des
Verdachts, gegen das Strafgesetz im Sinne des VbVG verstoßen zu haben, sind nach Einschätzung der Studie
vor allem Unternehmen bedroht, deren Markenimage im unmittelbaren Kundenkontakt ein wichtiges Kapital darstellt,
etwa Banken oder Lebensmittelhersteller. Die Herausforderung zur Prozesssteuerung und –überwachung wird insbesondere
in Unternehmen empfunden und aufgegriffen, deren Prozesse durch lange Logistikketten gekennzeichnet sind, dies
vor allem in der Transport- und in der Lebensmittelbranche. Bei kleineren Betrieben sind das VbVG und daraus resultierende
Vorkehrungsmaßnahmen gegen entsprechende strafrechtliche Risiken noch nicht angekommen, heißt es in
der Studie weiter. Zwischen persönlicher Unternehmer- und Verbandsverantwortlichkeit vermag man hier nicht
immer zu differenzieren.
Gemeinsam ist sämtlichen von den Autoren der Studie befragten Unternehmen eine zurückhaltende Einschätzung
des VbVG als Instrument zu eigenem Nutzen im Fall der Schädigung durch Wirtschaftspartner. Die außergerichtliche
Verhandlung und zivilrechtliche Auseinandersetzung gelten als adäquat und ausreichend, das Strafrecht wird
allenfalls als Drohoption innerhalb einer solchen Auseinandersetzung erwogen, folgert die Studie.
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