Parlament gedenkt Opfer des Nationalsozialismus
Wien (pk) - Jede Generation sei berufen, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen und für Freiheit und
Demokratie zu kämpfen. "Glauben wir nicht, dass wir widerstandsfähiger als unsere Vorfahren sind."
Das betonte der ehemalige tschechische Außenminister Karl Schwarzenberg am 06.05. bei der traditionellen
Gedenkveranstaltung im Parlament in Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus. "Wir können nicht
genügend wachsam sein." Es gehe darum, rechtzeitig zu handeln, je mehr man dem Bösen nachgebe, desto
größer werde es, mahnte er.
In den letzten Jahrzehnten sei zwar einiges geschehen, was die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit betrifft,
sagte Schwarzenberg. Der steile Aufstieg ultranationalistischer und populistischer Parteien in vielen europäischen
Ländern zeigt für ihn aber, dass man die Lehren aus den 40er-Jahren offenbar wieder vergessen hat. Statt
sich mit erhobenem Finger über die Mitläuferinnen und Mitläufer im Nationalsozialismus zu empören,
soll man seiner Meinung nach lieber gezielt nach den Ursachen dafür forschen, warum damals so viele weggeschaut
haben, als ihre Nachbarn verschwunden sind. Und sich gleichzeitig fragen, ob man sich in der heutigen Zeit nicht
selbst schuldig macht.
Wie vor 90 Jahren würden verschiedenste Hassprediger unbehelligt durch Europa ziehen, warnte Schwarzenberg.
Offene Aggression werde mit Hinweis auf schwierige Umstände entschuldigend toleriert. Es werde auch viel zu
wenig getan, um Minderheiten oder Emigranten und Asylwerber in die Gesellschaft zu integrieren. Statt Zigeuner
Roma zu sagen, genüge nicht. Die Gefahr und die Versuchung seien heute noch vorhanden, so der ehemalige tschechische
Außenminister.
Schwarzenberg schloss seine Rede mit dem Appell an das Publikum, Mut und Entschlossenheit an den Tag zu legen,
um dem Bösen rechtzeitig Herr zu werden.
Prammer: Geschichte verpflichtet
Vor der Gedenkrede Schwarzenbergs hatten sich Nationalratspräsidentin Barbara Prammer und Bundesratspräsident
Michael Lampel für eine lebendige Erinnerungskultur stark gemacht. Es dürfe kein Vergessen geben, die
Politik müsse die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus, "das ewige Schandmal unserer
Geschichte", wach halten und ihren Beitrag zu einem Klima leisten, das von Werten wie Toleranz, Freiheit und
Menschlichkeit getragen sei, betonte Lampel.
"Geschichte verpflichtet", ist auch Nationalratspräsidentin Barbara Prammer überzeugt. Für
sie ist der Gedenktag am 5. Mai, an dem in Österreich jedes Jahr der Opfer von Gewalt und Rassismus gedacht
wird, nicht nur ein Zeichen des Respekts gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus, sondern auch Symbol
für das Bekenntnis zur Verantwortung der Republik gegenüber den Ereignissen der NS-Zeit.
Kinderoper "Brundibár"
Im Mittelpunkt der diesjährigen Gedenkveranstaltung im Hohen Haus stand die Erinnerung an in der NS-Zeit verfemte
und verfolgte Musikerinnen und Musiker. Stellvertretend für sie wurde der in Auschwitz ermordete Komponist
Hans Krása mit der Aufführung der Kinderoper "Brundibár" gewürdigt. Unter der
Regie von Beverly Blankenship gelang den Studierenden der Universität für Musik und darstellende Kunst
Wien (mdw) mit Daniel Foki, Katsuya Uchinokura und Janine Steichen in den Hauptrollen eine einfühlende und
einprägsame Vorstellung. Dirigiert wurde das rund 40minütige Musikstück, das durch seine wiederholte
Aufführung im Konzentrationslager Theresienstadt in Tschechien berühmt wurde, vom derzeit in Bolivien
lebenden oberösterreichischen Musiker Andreas Penninger.
Für Nationalratspräsidentin Barbara Prammer hat die Oper, die von den armen Kindern Aninka und Pepíc(ek
und ihrem letztendlich erfolgreichen Versuch erzählt, den böswilligen Leierkastenspieler Brundibár
mit Hilfe dreier Tiere und der Kinder aus der Nachbarschaft zu vertreiben, eine über ihre Entstehungsgeschichte
hinausgehende allgemeingültige Aussage. Sie symbolisiere den Kampf der Gerechten und Unschuldigen gegen das
Selbstsüchtige, Böse und den Tyrannen sowie das Recht auf Widerstand, Zusammenhalt und die gelebte Solidarität
im Kampf um das Überleben, hielt sie fest.
Die seinerzeitige Aufführung von "Brundibár" in Theresienstadt wurde von den Nationalsozialisten
zu Propagandazwecken missbraucht. Sie brachte aber auch ein kleines Stück Freude und Normalität in das
Schicksal derer, die die Oper gespielt haben, und derer, die sie bei über fünfzig Vorstellungen als ZuschauerInnen
erleben konnten. Unter den Häftlingen des Konzentrationslagers Theresienstadt befanden sich auch 15.000 Kinder,
von denen nur rund 150 die NS-Herrschaft überlebten.
Zwei Zeitzeuginnen berichten
Eines von ihnen war Eva Herrmannová. Sie gehörte zu jenen Mädchen, die im Chor der Kinderoper
Brundibár sangen. Nach der Befreiung des Lagers absolvierte Herrmannová das Abitur und studierte
in Prag Musikwissenschaft. Von 1991 bis 1995 war sie Generalintendantin der Oper des Prager Nationaltheaters.
Im Gespräch mit dem ehemaligen ORF-Journalisten Michael Kerbler schilderte Herrmannová heute im Parlament
ihre Erinnerung an die damalige Zeit. Obwohl sie von der Arbeit oft blutige Füße gehabt habe und der
Keller, wo die Proben zumeist stattgefunden haben, kalt gewesen sei, sei sie beim Singen glücklich gewesen,
sagte sie. Dass die SängerInnen und Orchester-Mitglieder mit so viel Enthusiasmus bei der Sache waren, führt
sie nicht zuletzt darauf zurück, dass im Stück die Kinder letztendlich gesiegt haben.
Auch Dagmar Lieblová sang in Theresienstadt im Chor von "Brundibár". Allerdings wurde sie
drei Monate nach der Premiere gemeinsam mit ihrer Familie nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Sie überlebte
den Holocaust, weil man sie wegen einer versehentlich falschen Altersangabe in ihren Dokumenten als arbeitsfähig
einstufte und deshalb 1944 weiter zum Arbeitsdienst nach Hamburg brachte. Es sei wichtig, dass die heutige Generation
erfahre, was damals passiert sei, damit sie daraus Lehren ziehen könne, begründete Lieblová gegenüber
Kerbler ihre Bereitschaft, immer wieder als Zeitzeugin zur Verfügung zu stehen. Auch im Rahmen der von ihr
mitgegründeten Theresienstädter Initiative bemüht sie sich, die Opfer des Nationalsozialismus nicht
in Vergessenheit geraten zu lassen und die heutige Jugend zu Toleranz zu erziehen.
Parlament gedenkt NS-Opfern seit 17 Jahren mit eigenem Gedenktag
Der 5. Mai, der Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen, wird seit 17 Jahren als Gedenktag gegen
Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus begangen. Nationalratspräsidentin Prammer
und Bundesratspräsident Lampel konnten zur diesjährigen Veranstaltung im historischen Sitzungssaal des
Parlaments wieder zahlreiche Gäste, unter ihnen die Mitglieder der Bundesregierung und hohe religiöse
Würdenträger, begrüßen.
"Wenn es schon unmöglich ist zu verstehen, so ist doch das Wissen notwendig. Denn das Bewusstsein kann
wieder verführt und verdunkelt werden: auch das unsere", zitierte Lampel zu Beginn seiner Rede den Holocaust-Überlebenden
Primo Levi. Sowohl die Politik als auch die Gesellschaft sieht er in diesem Sinn zu Wachsamkeit aufgerufen. "Wir
müssen wehrhaft sein gegen Ideologien, die Hass und Rassismus, die einer menschenverachtenden Politik das
Wort reden."
Nationalratspräsidentin Prammer machte geltend, dass die Geschichte die Österreicherinnen und Österreicher
verpflichte, errungene Werte im Sinne eines friedlichen, demokratischen, rechtsstaatlichen Miteinanders zu verteidigen.
Sie verpflichte aber auch zum Zweifel, zu kritischem Bewusstsein gegenüber gesellschaftlichen Fehlentwicklungen,
bekräftigte sie.
Als Konsequenz aus den politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts wurde, wie Prammer hervorhob, die Idee eines
gemeinsamen Europas geboren. Die Europäische Union ist für sie vor diesem Hintergrund weitaus mehr als
ein Wirtschaftsraum oder eine Zweckgemeinschaft. "Sie ist der Beweis dafür, dass ein friedliches Zusammenleben
der Völker Europas – Gemeinsamkeit in Vielfalt – möglich ist." An der Umsetzung dieser Idee müsse,
so die Nationalratspräsidentin, ständig weitergearbeitet werden.
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