SoziologInnen der Uni Graz untersuchen die Rolle der Emotionen im Ersten Weltkrieg
Graz (universität) - Sowohl staatstragende Entscheidungen als auch spontane Reaktionen einfacher Soldaten
werden von Gefühlen mitbestimmt. Dieser Einfluss ist allerdings bislang in der soziologischen Forschung kaum
berücksichtigt worden. Ass.-Prof. Dr. Sabine A. Haring und Ao.Univ.-Prof. i.R. Dr. Helmut Kuzmics vom Institut
für Soziologie der Uni Graz haben Regimentsgeschichten, Tagebücher, Biographien, Autobiographien und
literarische Quellen rund um dem Ersten Weltkrieg detailliert analysiert und facettenreich dokumentiert, welche
Rolle Emotionen spielen.
In diesem Zusammenhang wurden unter anderem der Umgang mit Angst und Gefahr, mit Freundschaft und Verlust sowie
die Loyalität zu Kameraden, zum Regiment sowie zu Kaiser und Vaterland untersucht. „Wie vermeidet man Angst?
Welche Funktion hat Scham im Kriegsalltag? Die mehr oder minder bewusste Kontrolle dieser Gefühle ist bedeutsam
für die Erklärung der wichtigsten Vorgänge in Schlacht und Stellungskrieg“, erläutert Helmut
Kuzmics. Sie bestimmt die schlachtenentscheidende „Tapferkeit“, den begründeten oder unbegründeten Rückzug,
die „Härte“ und „Ausdauer“ von Soldaten und die Klarheit und Glaubwürdigkeit des Führungsverhaltens
von Offizieren. „Diese Aspekte sind relevant, um menschliches Verhalten besser zu verstehen und auch vorhersagen
zu können“, unterstreicht der Soziologe die Bedeutung der Analyse.
Im Kriegsgeschehen bedrücken der Zustand der Ungewissheit, das lange Abwarten und das Gefühl des Ausgeliefert-Sein
die Soldaten. „In vielen Quellen wird die so genannte Vorwärts-Panik beschrieben. Die Betroffenen konnten
ihre Lage nicht mehr ertragen und stürmten los“, schildert Sabine Haring die weitverbreitete Stimmung in den
unterschiedlichen Frontabschnitten. Auch die Atmosphäre innerhalb der Truppen war nicht immer harmonisch.
Während Regimentsgeschichten vorrangig von einer vertrauten, homogenen Gruppe vom Regimentskommandanten bis
zum einfachen Soldaten berichten, vermitteln Autobiographien und Tagebücher ein differenzierteres Bild: „Das
Verhältnis zu Offizieren ist ambivalent – bisweilen sind die schikanösen Vorgsetzten sogar die ‚Feinde‘
der einfachen Soldaten“, so Haring.
Um Feindbilder der militärischen Gegner zu zeichnen, bedienen sich die Schreiber propagandistischer Stereotype,
es lässt sich in manchen Passagen „Hass“ und „Verachtung“ nachweisen. In der direkten Konfrontation wird der
„Feind“ jedoch zumeist als ebenbürtig angesehen; man begegnet ihm mit Respekt. „Das schließt nicht aus,
dass man nicht ‚wutentbrannt‘ gegen ihn vorgeht und ihn ‚kaltmacht‘“, ergänzt die Soziologin. Gleichzeitig
jedoch gehört der kämpfende Italiener oder Russe bisweilen dem „Wir“ im Sinne einer „Schicksalsgemeinschaft“
an der Front an. Die „Anderen“ sind dann, folgt man den untersuchten Quellen, die höheren Führungsebenen
oder die Hetzpropaganda im Hinterland.
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