I prefer not to ... share! – 26/09 – 19/10/2014
Graz (steirischerherbst) - „I prefer not to … share!“ Ich ziehe es vor, nicht zu teilen. Wenn der steirische
herbst mit seinem Leitmotiv 2014 Anleihen an Herman Melvilles Verweigerer Bartleby nimmt, dann weil wir zerrissen
sind – zwischen dem Wissen, dass wir mehr teilen und gleichzeitig auf mehr verzichten müssen, wenn wir das
Auseinanderdriften der Reichsten und Ärmsten auf diesem Planeten stoppen wollen. Wir wissen, dass wir selbst
im Konkreten und Privaten umkehren müssen, unsere Konsumgewohnheiten, das Ausbildungs- und Karrieredenken
für unsere Kinder einem ethischen Realitätscheck unterziehen müssen. Und wir müssen uns fragen,
wie weit wir bereit sind, Konsequenzen aus unseren politischen Überzeugungen auch im Alltag zu ziehen.
Teilen kann auch Zwang sein. Sharen heißt das in Zeiten von Social Media. Das Nicht-Teilen ist im digitalen
Heute nicht mehr vorgesehen. „Gefällt mir“? Wohin gehe ich heute, wenn ich nicht teilen will, wenn ich mich
nicht mitteilen, nicht vernetzen will, wenn ich raus will aus der Großgemeinschaft vermeintlicher Freunde
und Communitys? Diese Gedanken durchziehen einmal offensichtlicher, dann wieder versteckter oder um die Ecke kommend
den steirischen herbst 2014.
Communitys werden schon am Eröffnungstag erprobt: Die legendäre Needcompany unter Jan Lauwers und Grace
Ellen Barkey gestaltet eine Performance-Nacht – eine Festivaleröffnung als Drahtseilakt ohne Netz, ein singuläres
Ereignis, in dem die Grenzen zwischen Kunst und Unterhaltung verschwimmen werden – „All Tomorrow’s Parties I+II“.
Oder im Festivalzentrum, das am Tag darauf eröffnet, heuer im Palais Wildenstein in der Paulustorgasse. Ein
Ort, der von allen geteilt wird – Künstlern, Publikum, Festivalmachern. Er wird von den Grazer Architekten
Supersterz + .tmp architekten gestaltet, wobei eines ihrer Hauptmotive der Hinterhof sein wird, als „Fortress of
Backyards“ wird er zum Spielraum für persönliche Tätigkeiten und Rituale, für neue und ungewohnte
Nachbarschaften, zum Schauplat! z von Handwerkern, Pfuschern und Tüftlern. Auch die herbst-Ausstellung 2014
ist im Festivalzentrum untergebracht: „Forms of Distancing. Repräsentative Politik und die Politik der Repräsentation“,
kuratiert von Luigi Fassi und Stefano Collicelli Cagol, widmet sich einem speziellen Aspekt des Leitmotivs, nämlich
dem Abstand-Nehmen, dem Verzicht, zu allem sofort Stellung zu nehmen und dadurch unabhängigem Denken mehr
Platz einzuräumen. Gegenüber wird in der Antoniuskirche Dennis Fesers Filminstallation „Rauhnacht“ eröffnet,
die das Festival heuer auch an seine Stationen außerhalb von Graz begleiten wird.
Denn das vielfältige und reichhaltige Programm des steirischen herbst pulsiert heuer nicht nur in Graz. Würde
man das diesjährige Festival in einem Begriff zusammenfassen wollen, käme man um das Wort „Aufbruch“
wohl nicht herum. Wir machen uns auf den Weg – in mehrfacher Hinsicht – und testen verstärkt die Grenzen,
jedes Wochenende strahlt der steirische herbst auch in die Steiermark aus. Den Anfang machen Auftragswerke in der
bildenden Kunst – mit Heidrun Holzfeind in Laafeld und Tobias Putrih in Bad Radkersburg sowie einer Ausstellung
im Meierhof zu Kornberg. Am zweiten Wochenende führt das Künstlerkollektiv machina eX durch Wildon und
zwar durch ein unbekanntes Wildon: zu Orten hinter den Fassaden der kleinen Marktgemeinde, herausgefallen aus Raum
und Zeit – ein Trip zwischen Realität, Science Fiction, Mystery und Hörspiel. Von hier aus schlägt
Benjamin Verdonck mit seiner selbstgebauten Thea! termaschine, in welchem er zugleich als Intendant, Performer
und Bühnentechniker agiert, eine Brücke nach Graz, wo seine Bühnenversion dann im Kaffeehaustisch-Format
zu sehen ist. Am dritten Wochenende rückt Stainz in den Mittelpunkt – der Komponist Georg Nussbaumer wagt
ein Experiment der besonderen Art: Er verbindet traditionelles Volks- und Chorliedgut mit seiner Komposition zu
einem „weststeirischen Wasserfall“, er schickt 7 Chöre und uns, das Publikum, auf eine Reise, auf der das
Wasser, dieses wertvolle Gemeingut, besungen wird, um am Ende alles zu einem großen Strom in der Kirche von
Stainz zusammenfließen zu lassen. Am letzten Wochenende gibt es in Bad Gleichenberg „A Párt – Die
Partei – The Party“ von Árpád Schilling als finalen Höhepunkt zu sehen. Schilling ist einer
der innovativsten und bedeutendsten ungarischen Theatermacher, seine Gruppe Krétakör zugleich eine
der bekanntesten der freien Szene des Landes, deren kritische Arbeiten zur politischen Lage Ungarns nur mit Hilfe
internationaler Partner wie dem steirischen herbst finanziert werden können. Im Musikpavillon von Bad Gleichenberg
wird die rumänische Gruppe Apparatus 22 außerdem eine Kartografie der Bewohner und Besucher des Ortes
erstellen. In allen Spielorten begleitet der Pianist Marino Formenti das Festival. In seinem Projekt „One to One“,
das in privaten Räumen stattfindet, strebt er Stunde für Stunde den musikalischen Dialog mit jeweils
einem Besucher an und schafft einen neuen Erfahrungsraum jenseits der üblichen Konzertkonvention.
Natürlich ist der steirische herbst auch in Graz in der gewohnten und vielstimmigen Programmdichte präsent,
mit zahlreichen Auftragswerken und Uraufführungen im performativen Bereich. Zwei performative Projekte docken
am Eröffnungswochenende an der Schnittstelle bildende Kunst an: Die zypriotische Künstlerin Maria Hassabi
zeigt ihre choreografische Körperskulptur „Premiere“ und der New Yorker Künstler Rashaad Newsome wird
„Shade Graz 2014“ inszenieren – mit einer lokalen, aus allen Bereichen der Gesellschaft ausgewählten Crowd.
Am zweiten Festivalwochenende wird die mittlerweile in Europa bekannteste New Yorker Off-Off-Off Broadway Truppe
Nature Theater of Oklahoma nach Graz zurückkehren. Mit im Gepäck, ihr großangelegtes Projekt „Life
& Times“ – die Episoden 4.5 & 5, sowie Nummer 6, die im steirischen herbst uraufgeführt wird. Parallel
entstehen i! m Rahmen eines Workshops der herbst-Akademie die Folgen 9 und 10 – als Musikvideo mit lokalen Teilnehmern.
Premieren gibt es außerdem von Die Transmissionare, eine Formation rund um die steirische Autorin Natascha
Gangl (in Kooperation mit UniT) und von der österreichischen Choreografin Christine Gaigg. Außerdem
zu sehen, die Arbeit „Gorkij Park 2“ der schwedischen Performance- und Filmkünstlerin Gunilla Heilborn.
Die Ausstellungen des Festivals sind über die ganze Stadt und darüber hinaus verteilt – die Partnerinstitutionen
des steirischen herbst docken in unterschiedlichster Form an das Themenfeld Teilen und Nicht-Teilen an: Territoriale
Landnahme und postkoloniale Machtverhältnisse, die auf Ausbeutung basieren und die betroffene Bevölkerung
in keiner Weise am Reichtum teilhaben lassen, werden etwa bei < rotor > thematisiert, a-semantische Sprache
bzw. sprachliche Verweigerung im Kulturzentrum bei den Minoriten: „Dort wo unsere Sprache endet, komme ich jeden
Tag vorbei“. Das Wohnen im Pariser „Tour Bois le Prêtre“, schillerndes Exempel für die Rehabilitation
des Massenwohnungsbaus der 60er- und 70er-Jahre von Druot, Lacaton & Vassal, wird im Haus der Architektur erlebbar
sein, begleitet von Simon Allemeerschs Lecture-Perfomance „Rabot 4-358“. Die Ausstellun! g „The Militant Image“
bei Camera Austria begibt sich in verschiedene Netzwerke und Formen der Militanz, das esc medien kunst labor wird
von feministischen Hackern in einen Server mit neuem Betriebssystem verwandelt und der Grazer Kunstverein beschäftigt
sich anhand der Arbeiten des amerikanischen Künstlers Ronald Jones und des italienischen Fotografen Elio Montanari
mit akzeptierten Formen der Verschleierung im Prozess des kommunikativen Teilens. In „ordinary freaks“ untersuchen
Christian Egger und Schorsch Kamerun im Künstlerhaus, Halle für Kunst und Medien das Prinzip Coolness
in Popkultur, Theater und Museum und mit „Parallel Borders 1“ wird ein spartenübergreifendes Wanderprojekt
des maltesischen Künstlers Mark Mangion zu erleben sein – im Forum Stadtpark und im öffentlich! en Raum
von Graz. Im Forum Stadtpark außerdem zu sehen und zu hören: die „HörRaumInstallation Kleiner Pelz
StrichCode Suada“ von Helmut Schranz, Gewinner des von Akademie Graz, Forum Stadtpark, Literaturhaus Graz, ORF
Steiermark und steirischer herbst ins Leben gerufenen Wettbewerbs lime_lab – Labor für transdisziplinäres
Hörspiel.
Im Süden der Stadt in einer ehemaligen Abfüllanlage für Limonaden hat das freie Atelierhaus Schaumbad
mit seinen mehr als 40 Mitgliedern Quartier bezogen – es wird in seinem Projekt „Am Südrand. Co-Industrielle
Lebenswelten“ das Viertel in den Fokus nehmen und auch erkunden. Neue Partner im Bereich der bildenden Kunst gibt
es auch außerhalb von Graz: Der Schauplatz Kornberg im Meierhof zu Kornberg, wo „Zum Verzehr“ Lebensmittel,
Kunstmittel und Kulturtechniken thematisiert, und das Zollamt – ehemaliger österreichisch-slowenischer Grenzposten
in Bad Radkersburg, heute ein Ort der Kunst –, wohin der slowenische Künstler Tobias Putrih in „Routine Inspection“
die prähistorische Höhle Potoc(ka Zijalka aus den Karawanken verlegt. Im Pavelhaus / Pavlova hiša entführt
die österreichische Künstlerin Heidrun Holzfeind ins „Never Neverland“ – sie erforscht indivi! duelle
Lebensgeschichten und politische Realitäten der österreichisch-slowenischen Grenzregion rund um Bad Radkersburg.
Eine illustre Runde erweist am dritten Festivalwochenende Herbert Marcuse ihren Respekt: der Autor Thomas Ebermann,
Andreas Spechtl, Kopf der Band Ja, Panik, Schauspieler Robert Stadlober sowie Kristof Schreuf, Ex-Frontmann von
Kolossale Jugend, präsentieren einen Konzert-Theater-Abend – „Der eindimensionale Mensch wird 50“. Das Duo
Lundahl & Seitl entführt in „An Elegy to the Medium of Film“ in eine Welt voller Bilder und Geräusche
und die Autorin und Regisseurin Young Jean Lee unterzieht in „Straight White Men“ althergebrachtes männliches
Selbstverständnis einer Prüfung. Barokthegreat, eine der packendsten Gruppen einer jungen italienischen
Tanz- und Performance-Szene, zelebriert in „Victory Smoke“ von den repetitiven Akkordfolgen e! iner E-Gitarre ausgehend,
den magischen Moment, vor dem Überschreiten der Schwelle zum Erfolg.
Musikalisch durchziehen zwei Konzertreihen – Neue Heimat und Altes Revier – das Festival mit Live Acts etwa von
Mark Ernestus und Jeri-Jeri aus Senegal, das amerikanisch-deutsch-französische Quartett Fenster, Selvhenter
aus Dänemark und Jacco Gardner aus den Niederlanden.
Trotz empfindlicher Budgetkürzung seitens des ORF öffnet das musikprotokoll seine Türen zum siebenundvierzigsten
Mal. Künstlerinnen und Künstler, Musikerinnen und Musiker, Komponierende und Experimentierende aus aller
Welt kommen nach Graz, um die aktuellen Ergebnisse ihrer Arbeiten zu teilen: „… feeding the future“ mit Klangforum
Wien, RSO Wien, Arditti Quartet, Radian & The Necks, Andrey Kiritchenko, Klaus Lang und vielen mehr. Ebenfalls
an diesem Wochenende wird sich auch die diesjährige herbst-Konferenz nochmals eingehend mit dem Leitmotiv
auseinandersetzen: „Akademie der Asozialität. Teilen heißt jetzt share. Gefällt mir nicht“.
Trash und Tiefgang, nacktes Fleisch und Gender-Bewusstsein, die Arbeiten von Ann Liv Young dekonstruieren popkulturelle
Stereotypen oder interpretieren etwa Märchen sehr eigenwillig, wie man im vergangenen Festival erleben konnte.
In „Elektra“ nähert sie sich nun der klassischen Tragödie von Sophokles, eine Uraufführung und Fortsetzung
der Zusammenarbeit des steirischen herbst mit der amerikanischen Performerin. Die griechische Mythologie ist auch
für andcompany&Co. Ausgangspunkt ihrer Arbeit „Orpheus in der Oberwelt: Eine Schlepperoper“. Sie handelt
von jenem Grenzfluss im Osten Europas, den die Griechen Evros und die Türken Meric nennen. Unzählige
Tote sind in der jüngsten Vergangenheit an seine Ufer geschwemmt und in einem „Friedhof der illegalen Einwanderer“
begraben worden – meterhohe Zäune und Minenfelder schotten diese Außengrenze Europas ab. „You’re not
the same, Batman!“ meinen Jörg Albrecht und Gerhild Steinbuch. Sie erzählen den Mythos dieses Superhelden
neu und setzen damit ihre Reihe performativer Lesungen fort, die im herbst 2012 mit „Friendship is“ begann. Es
sind Themen von existenzieller Natur, die der französische Choreograf und Tänzer Boris Charmatz behandelt.
In seiner neuen Arbeit „manger“, einer Koproduktion mit der Ruhrtriennale, untersucht er unser zwiespältiges
Verhältnis zum Thema „Essen“. Die Zufuhr von Nahrung betrachtet Charmatz in ihrer Metaphorik, er geht in seinem
Stück mit 14 Tänzerinnen und Tänzern der Frage nach, wie es uns gelingt, die bittere Realität
tagtäglich hinunterzuschlingen und zu verdauen. Am 19. Oktober, dem allerletzten Festivaltag, wird Marino
Formenti in Bad Gleichenberg „One for the Road“ zum Brunch servieren und schließlich werden wir gemeinsam
weinen,! wenn uns Moonface, alias Spencer Krug – Mitbegründer der erfolgreichen Indie-Rock-Band Wolf Parade
– in der Grazer Antoniuskirche mit einer melodramatisch, für Stimme und Piano vertonten Liebesgeschichte in
den Abend verabschiedet. Let’s share that!
|