Brüssel (europarl) - Martin Schulz ist der erste Präsident des Europaparlaments, der das Amt zum zweiten
Mal übernimmt. Seine Mission: Europa näher zu den Menschen bringen. Dem gebürtigen Rheinländer
geht es nicht darum, den größten Binnenmarkt zu schaffen, sondern das Leben der Menschen vor Ort zu
verbessern. Die EU solle sich um die Sorgen und Ängste der Menschen kümmern. Nur so, sagt Schulz im Interview,
ließen sich Euroskepsis und Extremismus vermeiden.
Während des Europawahlkampfs warb Martin Schulz um die Stimmen der Bürger in ganz Europa. Er diskutierte,
hörte zu und ließ sich auf die Gedanken der Bürger ein. Bei einer Diskussion in Dänemark ging
es darum, warum sich Menschen von Europa abwenden. Dabei fragte ihn eine junge Kandidatin: "Ist es nicht vielmehr
so, dass Europa sich von den Menschen abgewendet hat?" Diese Frage berührte den 58-Jährigen. "Das
mag nicht stimmen", reflektiert Schulz im Interview zu der Frage und erläutert: "Dennoch ist es
ein Gefühl, das wir sehr ernst nehmen müssen." Ansonsten werde die Europäische Union scheitern.
Der soziale Graben zwischen Reichen und Armen werde immer größer, kritisiert Schulz. "Immer mehr
Menschen befinden sich in prekären Arbeitsverhältnissen. Gleichzeitig nimmt der Anteil der Superreichen
zu. Das empfinden die Leute als ungerecht. Da muss man gegensteuern."
Ein zweites Phänomen sei die dramatische Jugendarbeitslosigkeit. Wenn junge Menschen keine Chance bekämen,
werde sich eine ganze Generation von Europa abwenden. "Wir riskieren, eine ganze Generation zu verlieren",
warnt Schulz.
"Solange es einen nationalen Filter für die Europapolitik gibt, erreichen wir die Leute nur schwer"
Der ehemalige Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten ist jedoch überzeugt, dass das Desinteresse an Europa
nicht mit einem Informationsdefizit zu erklären sei. "Wir können das Europaparlament noch transparenter
machen, noch mehr Informationsbüros eröffnen, doch solange es einen nationalen Filter für die Europapolitik
gibt, erreichen wir die Leute nur schwer", findet Schulz.
Einen ersten Schritt in diese Richtung wurde mit der Personalisierung des Europawahlkampfs gemacht. Die großen
Parteien Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten aufgestellt und unterstützt. Schulz wurde
von den Sozialdemokraten nominiert. "Ich hatte ursprünglich vor Kommissionspräsident zu werden.
Die Wähler haben aber anders entschieden", sagt Schulz.
Die Christdemokraten gewannen die meisten Sitze im neuen Europäischen Parlament. Jean-Claude Juncker, der
Kandidat der Christdemokraten, erhielt daher das Mandat des Parlaments, eine Mehrheit zu bilden. Am 27. Juni wurde
Juncker auch von den Staats- und Regierungschefs der EU als Kandidat für den Kommissionspräsidenten nominiert.
Zitat
Mit der Entscheidung im Rat zu Gunsten von Juncker (...) wurde die Einflusssphäre des Europäischen
Parlaments enorm gestärkt
Martin Schulz
Schulz zufolge war das ein Wendepunkt. "Wenn der Rat Juncker nicht genommen hätte, hätten wir
die nächste Europawahl absagen können. So glaube ich, dass wir bei der nächsten Europawahl eine
größere Chance haben, weil sichtbar wurde: Die Stimme zählt", sagt Schulz. "Wenn wir
das richtig weiterführen, haben wir ein neues Kapitel des europäischen Parlamentarismus eröffnet",
fügt er hinzu.
Das Ergebnis der Wahl habe dazu geführt, dass die zwei größten politischen Fraktionen im Europaparlament
kooperieren. "Daraus ergibt sich die Logik, dass Parlament und Kommission institutionell eng zusammenarbeiten.
Dann macht es meiner Meinung nach Sinn, wenn einer an der Spitze der Kommission und der andere an der Spitze des
Parlaments steht."
Die Kommission rücke näher ans Parlament, werde stärker parlamentarisch angebunden und legitimiert.
Es werde eine hohe Konvergenz im Handeln von Kommission und Parlament geben, meint der Sozialdemokrat.
"Das Europäische Parlament muss sich auf die Hauptaufgaben fokussieren"
Das "Ja" der EU-Staats- und Regierungschefs zu Juncker festige die Position des Parlaments, ist sich
Schulz sicher. "Mit der Entscheidung im Rat zu Gunsten von Juncker, dem Kandidaten des Parlaments, wurde die
Einflusssphäre des Europäischen Parlaments enorm gestärkt. Von dort aus weiter zu machen und die
Rolle des Europäischen Parlaments als gleich starke Institution wie Kommission und Rat auszubauen, das war
mein Ziel in der ersten Amtszeit. Das möchte ich auch zum Hauptziel der zweiten Amtszeit machen", so
Schulz.
Der neue und alte Präsident des Europaparlaments hat bereits ehrgeizige Pläne für die kommende Legislaturperiode.
"Ich glaube, dass wir auch im Parlament diskutieren müssen, ob wir nicht konzentrierter arbeiten sollten.
Die Themenbreite ist enorm. Das Europäische Parlament muss sich auf die Hauptaufgaben fokussieren: Bankenunion,
Arbeitslosigkeit - besonders von Jugendlichen, Wachstum, Klima- und Energiepolitik", sagt er und ergänzt:
"Das Parlament wird einflussreicher und sichtbarer."
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