Erster Weltkrieg und Gesellschaftspolitik
Linz (jku) - Der Erste Weltkrieg veränderte nicht nur - durch den Zerfall der beiden großen multiethnischen
Imperien der Habsburgermonarchie und des Osmanischen Reiches - die Landkarte Europas grundlegend; er hatte auch
tiefgreifende Auswirkungen auf die innere Verfasstheit der Staaten. Darüber berichtet Dr. Brigitte Kepplinger
vom Institut für Gesellschaftspolitik und Sozialpolitik der Johannes Kepler Universität (JKU) Linz.
Dies betraf zunächst die Regierungssysteme. "Das Regierungssystem der Monarchie war europaweit auf dem
Rückzug. Die neu entstandenen Staaten Mitteleuropas gaben sich republikanisch-demokratische Verfassungen;
das allgemeine, gleiche Wahlrecht für Männer und Frauen bildete ihren Kern", erklärt Kepplinger.
Damit änderte sich auch das Verständnis und die Bedingungsfaktoren von Politik: die Massenparteien, die
um die Jahrhundertwende entstanden waren, wurden nun zu bestimmenden Elementen. Sie bündelten die Interessen
großer Bevölkerungsgruppen und suchten diese im Rahmen des Parlamentarismus zu realisieren, wobei die
Bruchlinie der Interessen zwischen den (sozialistischen) Arbeiterparteien und den bürgerlichen Kräften
verlief.
Veränderung der Rolle der Frau in der Gesellschaft
Diese Entwicklung vollzog sich auf der Basis tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen, die der
Krieg verursacht hatte. "Ein Faktor war der teilweise Statusverlust des Bürgertums und der Mittelschichten,
mit dem eine Aufwertung der Arbeiterschaft und der Gewerkschaften korrespondierte. Die Rolle der Frau erfuhr im
Krieg eine grundlegende Veränderung", so Kepplinger. Frauen wurden verstärkt zur Arbeit in der Industrie
herangezogen, ersetzten die eingerückten Männer. Obwohl viele der Freiräume nach dem Krieg wieder
zurückgenommen wurden, entwickelte sich ein breiter Diskurs über die Position der Frau in der Gesellschaft,
der nicht zuletzt von den Frauen selbst in Gang gehalten wurde. Die Versorgung der Kriegsinvaliden und der Hinterbliebenen
der gefallenen Soldaten stellte die sozialen Sicherungssysteme vor immense Herausforderungen und wurde zum Ausgangspunkt
einer Auseinandersetzung um die gerechte Verteilung der Kriegslasten.
Entwicklung zum Sozialstaat
Die Arbeiterparteien drängten auf sozialpolitische Reformen, die die formale politische Gleichstellung
der Arbeiterschaft im Rahmen des allgemeinen Wahlrechts durch eine soziale und ökonomische Gleichstellung
ergänzen sollte. Im Fokus stand die Forderung nach Absicherung gegen die Armutsrisken Arbeitslosigkeit, Krankheit
und Alter. "Tatsächlich wurden z.B. in Österreich im Anschluss an den Ersten Weltkrieg entsprechende
sozialpolitische Reformen realisiert, wie etwa die staatliche Arbeitslosenversicherung von 1920. Der Staat wurde
zum zentralen Adressaten der Forderungen nach sozialpolitischen Reformen und sollte auch deren zentraler Akteur
sein, also zu einem Sozialstaat entwickelt werden", sagt Kepplinger. Diese Konzeption hatte ihre Wurzeln nicht
zuletzt in der weitreichenden staatlichen Lenkung der Kriegswirtschaft, die in Österreich von Experten als
realer "Kriegsstaatsozialismus" bezeichnet wurde.
So erhielt die Diskussion um die Etablierung staatlicher sozialer Sicherungssysteme auf Grund der Erfahrungen des
Ersten Weltkriegs eine neue Dimension, wie sich dies etwa in der Verankerung der Sozialversicherung als staatliche
Aufgabe in der Weimarer Verfassung widerspiegelt. "Wenn auch die entsprechenden Konzepte auf Grund der politischen
Entwicklung in der Zwischenkriegszeit nur unvollständig realisiert werden konnten, so bildeten sie doch die
Basis für den Auf- und Ausbau des Sozialstaates nach 1945", so Kepplinger.
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