60-Jahr-Feier des Verbands der Volksdeutschen Landsmannschaften im Parlament
Wien (pk) - Die Geschichte der Vertreibungen von deutschsprachigen Minderheiten in Ost- und Südosteuropa,
die dem Zweiten Weltkrieg folgten, stellt eine aktuelle Herausforderung an die Geschichtswissenschaft ebenso wie
für Politik und Zivilgesellschaft im den Staaten des gemeinsamen Europas und für ihre Erinnerungskulturen
dar. Es gilt, aus der Geschichte Lehren für das gemeinsame demokratische Europa zu ziehen. Das war der Tenor
eines von allen Fraktionen des Parlaments mitgetragenen Abends, der anlässlich des 60-jährigen Bestehens
des Verbands der Volksdeutschen Landsmannschaften in Österreich (VLÖ) am 11.09. im Abgeordneten-Sprechzimmer
des Parlaments stattfand.
Kopf: Unrecht ohne Aufrechnung oder Relativierung benennen
In seiner Begrüßungsrede konstatierte der Zweite Nationalratspräsident Karlheinz Kopf, dass das
Thema Flucht und Vertreibung von trauriger Aktualität ist. Laut Angaben der Organisation "Ärzte
ohne Grenzen" sind weltweit derzeit 43 Millionen Menschen Flüchtlinge. Im Gedenken an die Vertreibungen
der deutschsprachigen Minderheiten Ost- und Südosteuropas, die auf den nationalsozialistischen Vernichtungskrieg
folgten, gelte es, geschehenes Unrecht zu benennen, ohne in Aufrechnung oder Relativierung zu verfallen. Kopf erinnerte
dabei an die Worte von Simon Wiesenthal "Zuerst Wahrheit, dann Gerechtigkeit" und "Recht, nicht
Rache". Der Blick in die Vergangenheit und in die Gegenwart erinnere daran, dass Freiheit und Frieden keine
Selbstverständlichkeiten sind, sagte der Zweite Präsident des Nationalrats.
Der VLÖ-Generalsekretär und ehemalige Nationalratsabgeordnete Norbert Kapeller gedachte dankbar der verstorbenen
Nationalratspräsidentin Barbara Prammer, die diesen Abend als eine von allen Fraktionen des Parlaments mitgetragene
Veranstaltung ermöglicht hatte. Den Organisationen der Heimatvertriebenen gehe es um Recht und Gerechtigkeit,
nicht um Vergeltung, unterstrich er. Es sei zunehmend seine Aufgabe, die Erinnerung an die Kultur der deutschsprachigen
Minderheiten in Osteuropa zu bewahren und an die nächsten Generationen weiterzugeben.
Der Bundesvorsitzende des VLÖ, Rudolf Reimann, erinnerte an die Schwierigkeiten, welche die Vertriebenen in
den ersten Jahren der Zweiten Republik zu bewältigen hatten. Sie waren lange als Staatenlose politisch und
sozial, etwa auf dem Arbeitsmarkt, benachteiligt. Es sei auch ein Verdienst der Vertriebenenverbände, positive
Veränderungen der Politik erreicht zu haben.
Rathkolb zur Entstehung einer neuen Erinnerungspolitik
Der Historiker Oliver Rathkolb erinnerte eingangs seiner Ausführungen ebenfalls an Barbara Prammer, die ihn
gebeten hatte, an diesem Abend zum Thema "Vertreibungen im Zweiten Weltkrieg als europäischer Erinnerungsort"
zu sprechen. Prammer war die Beschäftigung mit allem Formen der Menschenrechtsverletzungen im dunklen 20.
Jahrhundert ein großes Anliegen, sagte der Historiker. Das vergangene Jahrhundert war von mehreren Wellen
staatlich organisierter und motivierter Vertreibungen gekennzeichnet. Im allgemeinen ging es darum, so genannte
"ethnisch homogene Staaten" zu etablieren. Es spanne sich damit ein Bogen von den Vertreibungen während
der Balkankriege unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg bis zu den Kriegen in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens.
Lange Zeit bestand eine deutliche Kluft zwischen den Darstellungen der offiziellen Geschichtsschreibung und den
persönlichen Erinnerungen, die von der ersten Generation der Vertriebenen weitergegebenen wurden. Erst ab
den 1990er Jahren begann sich eine neue Form der Auseinandersetzung mit diesem Kapitel der Geschichte herauszubilden,
erläuterte Rathkolb. Derzeit seien innerhalb der EU Bestrebungen im Gang, einen neuen erinnerungspolitischen
Narrativ zu formen. Man versuche, alle Menschenrechtsverletzungen des 20. Jahrhunderts zu thematisieren, ohne dabei
zu Gleichsetzung, Aufrechnung oder gar Revisionismus zu gelangen.
Rathkolb führte dies am Beispiel des Umgangs mit der Vergangenheit in der Tschechischen Republik aus. Aufgrund
der Erfahrung der brutalen Unterdrückung des tschechischen Volkes während der NS-Zeit habe man dort die
Frage der Vertreibungen lange Zeit ausschließlich unter diesem Aspekt gesehen. Präsident Vaclav Havel
habe als einer der ersten eine offene Auseinandersetzung mit der Geschichte, auch mit Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen,
zu denen es bei der Vertreibung der Deutschen kam, angestrebt.
Als wichtige Basis für ein neues Geschichtsverständnis benannte Rathkolb den kulturellen Austausch zwischen
den Nachkommen der Vertriebenen und der ehemaligen Vertreibergesellschaften. Hier könne eine gemeinsame Erinnerung
jenseits der Gewalterfahrungen wachsen.
Abgeordnete würdigen Leistungen des Vertriebenenverbands
Die Menschenrechts- und VertriebenensprecherInnen der Parteien würdigten die Arbeit des VLÖ für
die Integration der Vertriebenen im demokratischen Österreich. Besonders betonten sie den überparteilichen
Charakter der Veranstaltung. Es sprachen Nationalratsabgeordneter Franz Kirchgatterer (S), Michael Hammer (V),
Anneliese Kitzmüller (F), Wolfgang Pirklhuber (G) und Bundesrat Gerald Zelina (T) in Vertretung des Vertriebenensprechers
des Team Stronach Christoph Hagen. Die Menschenrechtssprecherin der NEOS Angelika Mlinar ließ sich aus Termingründen
entschuldigen. Durchgängiges Thema in den Statements war die Bedeutung, die ein offener Umgang mit der Geschichte
für die Weiterentwicklung des demokratischen, gemeinsames Europa besitzt. Es herrschte Einigkeit, dass die
Erfahrungen der Vertriebenen Teil dieser Geschichte sind.
Für die Musikalische Umrahmung der Veranstaltung sorgt das Ensemble Harmonia Classica
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