ForscherInnen der Uni Graz erklären die Bedeutung mittelalterlicher Ernährungslehre
für die Gegenwart
Graz (universität) - Fischbraten in Zimtsauce? Was für gegenwärtige Gaumen befremdlich anmuten
mag, war in der Welt des Mittelalters die perfekte Kombination. „Das zentrale Prinzip dieser Ernährungslehre
war es nämlich, das persönliche Gleichgewicht durch aufeinander abgestimmte Lebensmittel zu finden“,
erklärt Dr. Karin Kranich vom Institut für Germanistik der Karl-Franzens-Universität Graz. Gesundheitsbewusste
Menschen können deshalb von den KöchInnen des Mittelalters auch heute einiges lernen, ist die Forscherin
überzeugt.
Gemeinsam mit Priv.-Doz. Dr. Andrea Hofmeister und Mag. Helmut W. Klug hat Kranich die reichen Ergebnisse einer
interdisziplinären Fachtagung im Buch „Der Koch ist der bessere Arzt. Zum Verhältnis von historischer
Diätetik und Kulinarik im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit“ zusammengefasst. Dieser Sammelband wird
am Dienstag, 11. November 2014, um 19 Uhr im Hauptgebäude der Uni Graz präsentiert.
Unverträglichkeiten, Allergien und die Konsequenzen „falscher“ Ernährung sind nicht ausschließlich
Modeerscheinungen des schnelllebigen 21. Jahrhunderts: „Diese Leiden waren wohl auch im Mittelalter bekannt, nur
löste man das Problem damals, indem die Essgewohnheiten an bestimmte Grundregeln angepasst wurden“, weiß
Kranich. Das Ziel der Diätetik vor rund 500 Jahren: ein harmonisches Körpersystem zu schaffen, das durch
die Balance von individuell abgestimmter Ernährung sowie ausgeglichenen Arbeits- und Ruhezeiten gesund bleiben
sollte. Voraussetzung war eine genaue Kenntnis der eigenen Konstitution, des sogenannten Temperaments, im Zusammenhang
mit der Vier-Säfte-Lehre, erklärt Kranich: „Demnach wurden die Menschen in Phlegmatiker, Sanguiniker,
Choleriker und Melancholiker unterteilt – je nachdem, welcher der vier Säfte in ihrem Organismus der vorherrschende
war. KöchInnen empfahlen daraufhin für jeden Typ jene Speisen als besonders bekömmlich, die als
komplementär eingestuft waren. So sollte durch eine innere Harmonie einerseits körperlichen Gebrechen
vorbeugt und andererseits auch eine Ausgewogenheit in der charakterlichen Ausprägung erreicht werden.“ Dieses
Prinzip der Kategorisierung nach den Prinzipien der Vier-Säfte-Lehre und deren Komplexionen kalt-warm-trocken-feucht
galt auch für Lebensmittel: „Der Fisch ist beispielsweise kalt und feucht, deshalb braucht er einen warmen
und trockenen Gegenspieler, wie etwa den Zimt“, so Andrea Hofmeister.
Die mittelalterliche Idee des persönlich richtigen Maßes, das es in allen Lebensbereichen zu halten
gilt, ist heute oft Teil jener Praktiken, die Entschleunigung und Selbstfindung versprechen, unterstreichen die
Forscherinnen: „Fastenkuren oder Pilgerfahrten – im Mittelalter übrigens völlig normale Bestandteile
des Jahreszyklus – sind in ihrer Sinnhaftigkeit ebenso im Jetzt angekommen wie die Vorstellung von einem harmonischen
Verhältnis von Arbeits- und Lebenszeit: Stichwort ‚Work-Life-Balance‘“. Die WissenschafterInnen am Institut
für Germanistik haben sich das Ziel gesetzt, auch die Prinzipien der mittelalterlichen Ernährungslehre
so aufzubereiten, dass sie in der Gegenwart wieder mehr Beachtung finden. Diese Forschungen sind im universitätsweiten
Schwerpunkt „Kultur- und Deutungsgeschichte Europas“ eingebunden.
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