Wien (universität) - Sie krabbeln, kriechen oder fliegen: Insekten haben die Welt erobert und sind die
mit Abstand artenreichste Tiergruppe. WissenschafterInnen des internationalen Großprojekts 1KITE ist es gelungen,
mit einem molekularen Datensatz von 1.478 Genen und neu entwickelten Analysenverfahren den Stammbaum der Insekten
aufzuklären und deren evolutionäre Erfolgsstory zu enträtseln. Von Seiten der Universität Wien
ist ein Team rund um den Evolutionsbiologen Günther Pass beteiligt. Die ersten Ergebnisse wurden aktuell in
der renommierten Fachzeitschrift "Science" publiziert.
Insekten sind vor rund 480 Millionen Jahren aus marinen Vorfahren hervorgegangen und haben sich zur vielfältigsten
und erfolgreichsten Tiergruppe entwickelt. Auf dem Land stellen sie den größten Anteil der tierischen
Biomasse und haben dadurch die terrestrischen Lebensräume entscheidend geprägt. Um die stammesgeschichtliche
Entwicklung der Insekten zu klären und zu datieren, haben sich WissenschafterInnen aus den verschiedensten
Disziplinen zum Großprojekt 1KITE (1000 Insect Transcriptome Evolution) zusammengefunden.
"Biologische Stammbäume sind der notwendige Erklärungshintergrund und elementare Voraussetzung für
sehr viele Forschungsfragen, man könnte sogar sagen deren Rückgrat", erklärt Günther Pass
vom Department für Integrative Zoologie der Universität Wien. Aus Österreich sind an diesem internationalen
Projekt neun WissenschaftlerInnen der Universität Wien und des Naturhistorischen Museums beteiligt.
Molekulare Uhr kalibriert
Anhand der Häufigkeiten von Mutationen im Genom kann man das Alter von Aufspaltungen im Stammbaum grob
abschätzen. Im 1KITE-Projekt wurde diese "molekulare Uhr" in einer richtungsweisenden Form mit Hilfe
von Fossilien kalibriert, wodurch die Verlässlichkeit der Altersangaben stark verbessert wird. Demnach traten
Insekten schon vor rund 480 Millionen Jahren erstmals auf, zeitgleich mit den ersten Landpflanzen. Bereits 100
Millionen Jahre später eroberten Insekten als erste Tiere den Luftraum und blieben für fast 200 Millionen
Jahre die alleinigen Herrscher der Lüfte. Viele der heute noch lebenden Insektengruppen entstanden schon im
Erdaltertum. Auch die Evolution von Insekten mit einem Puppenstadium in ihrer Entwicklung begann bereits vor etwa
350 Millionen Jahren. Insekten erreichten damit ihre erste Blütezeit lange vor dem Auftreten der Dinosaurier
oder gar von Vögeln und Säugetieren. Die enorme Entwicklung der Artenvielfalt der Insekten erfolgte aber
erst in der Kreidezeit in enger Verbindung mit der Evolution der Blütenpflanzen.
Zusammenführung von Kompetenzen
Die Rekonstruktion des Stammbaumes der Insekten war nur möglich durch die Zusammenarbeit von rund 100
renommierten ExpertInnen für molekulare Biologie, Morphologie, Paläontologie, Taxonomie, Embryologie
und Bioinformatik. Geleitet wurde das dreijährige Projekt von Bernhard Misof (Zoologisches Forschungsmuseum
Alexander Koenig, Deutschland), Karl Kjer (Rutgers Universität, USA) und Xin Zhou (Bejing Genomics Institute,
VR China).
Die DNA-Sequenzierungen wurden am größten nationalen Forschungsinstitut Chinas, dem Bejing Genomics
Institute, durchgeführt, das auch die komplette Finanzierung dafür übernommen hat. "Es war
uns ein Anliegen, die lange Zeit vernachlässigte genetische Vielfalt innerhalb der Insekten mit einer Gruppe
von exzellenten Wissenschaftlern zu analysieren", erklären die Initiatoren.
Schwierige Analyse riesiger Datenmengen
Die Analysen bauen auf der Sequenzierung von Transkriptomen auf. Darunter versteht man die Gesamtheit der Gene,
die zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem Organismus aktiv sind und in RNA "transkribiert", also umgeschrieben,
werden. Das Transkriptom gibt somit Auskunft über einen großen und sehr wichtigen Teil der Erbinformation
eines Organismus. Die Sequenzierung von Transkriptomen bietet zudem den Vorteil, dass nur Proteine analysiert werden.
Dies spart Zeit, ohne viel Verlust an Qualität. "Nur so war es möglich, in einer so kurzen Zeitspanne
diese Fülle an Daten zu analysieren", so Harald Letsch vom Department für Botanik und Biodiversitätsforschung
der Universität Wien.
Daten für die Scientific Community
Ziel der ersten Publikation mit einem Datensatz von 144 ausgewählten Insekten ist die Analyse der Verwandtschaftsbeziehungen
der Großgruppen. Sobald die Daten von allen Arten vorliegen, kann mit der Detailanalyse der Subgruppen begonnen
werden.
Neben der Stammbaumrekonstruktion stellt das WissenschafterInnenteam aber auch erstmals umfassende Genomdaten von
Insekten der Öffentlichkeit und damit auch anderen ForscherInnen zur Verfügung. Dadurch wird sowohl die
Grundlagenforschung, als auch die angewandte Forschung für Jahre hinaus katalysiert werden. So wird es zum
Beispiel möglich sein, die Stoffwechselwege unterschiedlicher Insektenarten sehr genau zu vergleichen und
dieses Wissen in der Ressourcennutzung oder Schädlingsbekämpfung
einzusetzen.
"Das 1KITE-Projekt ist mit seiner Interdisziplinarität und der Einbeziehung von Forschungsmuseen als
Garanten der Langzeitarchivierung der Belegexemplare und Metadaten ein Lehrstück internationaler Kooperation.
Derartige Forschungsnetzwerke werden immer stärker zum Charakteristikum internationaler Spitzenforschung",
so Günther Pass abschließend.
Publikation in "Science"
Bernhard Misof et al.: Phylogenomics resolves the timing and pattern of
insect evolution . In: Science
Doi: http//dx.doi.org/10.1126/science.1257570
|