Diskussionsabend mit Leichtfried und Kern im Wien-Haus in Brüssel - ÖBB als Vorreiter
bei der Aufarbeitung der Rolle der Bahn im Nationalsozialismus
Brüssel/Wien (rk) - Ohne die Bahn als Transportmittel wären die Kriegslogistik der deutschen Wehrmacht
und die Massentransporte in die Vernichtungslager nicht machbar gewesen. Von 1938 bis 1945 waren die Österreichischen
Bundesbahnen (ÖBB) ein Teil der Deutschen Reichsbahn und eine der wichtigsten Stützen des nationalsozialistischen
Staates. Diesem Zeitabschnitt ist die Themenausstellung "Verdrängte Jahre - Bahn und Nationalsozialismus
in Österreich 1938 - 1945" gewidmet, die diese Woche im Europäischen Parlament in Brüssel zu
sehen ist und in der die österreichischen Bundesbahnen ihr dunkelstes Kapitel aufarbeiten.
Die Ausstellung im Europaparlament nahmen die ÖBB und das Verbindungsbüro der Stadt Wien in Brüssel
zum Anlass und luden gestern, Dienstag, zu einer hochkarätig besetzten Diskussion im Wien-Haus in Brüssel.
Mit ÖBB-Chef Christian Kern diskutierten die Chef-Historikerin der Deutschen Bahn, Susanne Kill und der belgische
Wissenschafter Herbert Ruland. Die Eröffnung nahm Jörg Leichtfried, Mitglied des Europäischen Parlaments,
vor: "Wenn wir heute über die verdrängten Jahre 1938 bis 1945 zurückblicken, hat das mit Vergangenheit
und Zukunft gleichermaßen zu tun. Wir wollen aus der Geschichte lernen - für eine friedliche europäische
Perspektive."
Michaela Kauer, Leiterin des Verbindungsbüros der Stadt Wien, betonte ebenfalls, wie wichtig es immer noch
sei, dass "gerade große Institutionen der Gesellschaft ihre Verantwortung für das Gestern wahrnehmen
und ihre Rolle in der Geschichte aufarbeiten". Die Österreichischen Bundesbahnen seien da ein ausgezeichnetes
Vorbild. "In der heutigen Veranstaltung sehen wir den Schrecken und Terror der NS-Zeit, aber auch die Menschen,
die sich damals dagegen gewehrt und an der Überwindung des Systems gearbeitet haben. Das gilt für die
drei tapferen jungen Männer in Belgien, die am 19. April 1943 den 20. Deportationszug überfielen, genauso
für die vielen Menschen, die jenen, die entkamen, Zuflucht und Schutz boten", sagte Kauer.
Die Rolle der Bahn in Europa
Die Eisenbahn in Österreich hat eine über 175-jährige Geschichte. Neben enormen technischen
Errungenschaften und die Bedeutung der Bahn für die industrielle Revolution, befassen sich die ÖBB aber
auch mit den dunklen Zeiten des Systems Schiene. Christian Kern, CEO der ÖBB Holding AG und Vorsitzender des
Europäischen Eisenbahnverbandes CER: "Unsere Geschichte aufarbeiten durch das Ausleuchten dieser Zeit,
das ist unser Konzept. Es bleibt das dunkelste Kapitel in unserer Geschichte, aber es bleibt kein blinder Fleck
mehr."
Die Bahn spielte nicht nur für den Nationalsozialismus eine wichtige Rolle, sondern stand auch im Zentrum
zahlreicher Widerstandsbewegungen. "Österreichische Freiheitsfront" (ÖFF) nannte sich eine
in Belgien während des Zweiten Weltkrieges aus österreichischen und deutschen jüdischen Flüchtlingen
bestehende kommunistisch dominierte Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus. Eines ihrer bekanntesten
Mitglieder war der österreichische Schriftsteller Hans Mayer, der später unter dem Namen Jean Améry
bekannt werden sollte. Auch die staatenlose Regine Krochmal, deren Eltern aus dem ehemaligen k.k. Galizien kamen,
gehörte zu den Aktivistinnen der Gruppe. Von den Nazischergen aufgegriffen, war sie dabei, als das erste und
einzige Mal ein Deportationszug in die Vernichtungslager überfallen wurde.
Im Gegensatz zu den österreichischen Eisenbahnern ließen sich viele deutsche Reichsbahner bereits ab
1933 für die nationalsozialistischen Ziele instrumentalisieren oder sogar begeistern, was sich auch in der
vergleichsweise geringen Widerstandstätigkeit zeigt. Auch die Deutsche Bahn AG setzt sich bereits seit ihrer
Gründung 1994 aktiv mit ihrer Vergangenheit auseinander: Susanne Kill, Chef-Historikerin der Deutschen Bahn:
"Lange Zeit haben sich deutsche Unternehmen sehr schwer getan, ihre Rolle im Nationalsozialismus darzustellen.
Heute ist das fast eine Selbstverständlichkeit. Denn das Wissen um jene Zeit, in der sich viele mit den Verbrechen
gegen die Menschlichkeit gemein machten, ist eine Chance, um in der Gegenwart die Gefahren für die Aufweichung
rechtsstaatlicher Prinzipien und antimenschliche Praktiken rechtzeitig wahrzunehmen."
Deportationszug 20 - Belgischer Widerstand
Herbert Ruland, wissenschaftlicher Leiter der Abteilung "Grenzgeschichte" an der Autonomen Hochschule
in der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Eupen erinnerte: "Am 19. April 1943 stoppten drei Aktivisten, mit
nur einer Pistole und einer Sturmlaterne ausgerüstet, zwischen Mechelen und Löwen den zwanzigsten Transport
jüdischer Mitbürger aus Belgien in das Vernichtungslager Auschwitz. Von den 1.631 Insassen konnten hier
232 entkommen. Dieser Vorgang ist einzigartig in der Geschichte des Holocaust." Ruland betonte, dass sich
viele belgische Eisenbahner in beiden Weltkriegen resistent gegen die deutsche Besatzungsmacht verhielten, "sie
versuchten dem Feind zu schaden, wo sie nur konnten."
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