Bundesrat: EU-Kommissar Hahn rechnet
 nicht mit baldiger EU-Erweiterung

 

erstellt am
03. 12. 14
10.00 MEZ

Sondersitzung zu fünf Jahre Vertrag von Lissabon
Wien (pk) – Es sei äußerst unwahrscheinlich, dass die Europäische Union in den nächsten fünf Jahren weiter wachsen wird. Das richte sich nicht gegen potentielle Kandidatenländer, sondern sei angesichts der bisher gemachten Erfahrungen mit Beitrittsverhandlungen ein technisches Faktum. Das betonte der österreichische EU-Kommissar Johannes Hahn am 02,12. bei einer außerplanmäßigen Sitzung des Bundesrats. Hahn hat in der EU-Kommission vor kurzem die Aufgabenbereiche EU-Nachbarschaftspolitik und Erweiterung übernommen und will sich in dieser Funktion um ein möglichst gutes Verhältnis zu allen EU-Nachbarn bemühen, wie er gegenüber den Mitgliedern der Länderkammer betonte. Dabei müsse man aber stärker als bisher auf die Interessen der EU fokussieren, bekräftigte er.

Was das derzeit angespannte Verhältnis zwischen der EU und Russland betrifft, sieht Hahn angesichts der jüngsten Entwicklungen in erster Linie Russland gefordert, eine Initiative zur Entspannung zu ergreifen. Die EU habe immer klar gemacht, dass sie keine expansionistischen Bestrebungen verfolge, unterstrich er. Vielmehr liege es im Interesse der EU, dass es allen Nachbarn gut gehe. Das gelte auch für Russland.

Generell hielt der österreichische EU-Kommissar fest, die EU habe durchaus Anlass, selbstbewusst zu sein, in Anbetracht dessen, was in der Vergangenheit geleistet wurde. Europa brauche aber auch die Fähigkeit, sich immer wieder selbst zu erneuern, damit es im globalen Wettbewerb nicht überholt werde und unter die Räder komme.

Was die Arbeit der EU-Kommission in den nächsten 5 Jahren betrifft, machte Hahn auf die Festlegung von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker aufmerksam, einige wenige Themenkomplexe ins Zentrum zu rücken, sich mit diesen aber umso intensiver zu beschäftigen. Konkret nannte er die wirtschaftliche Konsolidierung der Union, den Ausbau der sozialen Dimension, die digitale Agenda, deren Bedeutung nach Meinung von Hahn unterschätzt wird, sowie die Europäische Außen- und Sicherheitspolitik. Innerhalb der Kommission hat sich laut Hahn jedenfalls einiges geändert, nur 5 der 28 Kommissionsmitglieder haben bereits der alten Kommission angehört.

Um die europäische Wirtschaft zu stimulieren und durch die Gründung neuer Unternehmen zusätzliche Arbeitsplätze zu generieren, müsse man auch kleine und mittlere Betriebe unterstützen, betonte Hahn. Diese seien das Rückgrat der europäischen Wirtschaft. Aber auch die Interessen der Industrie dürfe man nicht aus den Augen verlieren. Als ein gelungenes Beispiel für eine grenzüberschreitende industrielle Kooperation in Europa nannte Hahn das europäische Flugzeugcluster Airbus.

Bei der Wirtschaftspolitik gilt es laut Hahn außerdem zu berücksichtigen, dass keine Region so international ausgerichtet sei wie Europa. Keine andere Region habe derart viele externe Investoren angelockt, umgekehrt sei auch Europa international ein beachtlicher Investor. Jeder fünfte Arbeitsplatz in Europa, in Österreich sogar jeder vierte, sei von der Exportwirtschaft abhängig, skizzierte er.

Zum Thema EU-Erweiterung meinte Hahn, jedes Land, das einen EU-Beitritt anstrebe, lege die Geschwindigkeit des Beitrittsprozesses im Prinzip selbst fest. Von Seiten der EU will er allerdings einen stärkeren Fokus darauf richten, dass die Kandidatenländer zum Zeitpunkt des EU-Beitritts tatsächlich EU-fit sind. Das sei in der Vergangenheit nicht immer der Fall gewesen, räumte er ein. Gesetze gegen Korruption und zur Stärkung der Unabhängigkeit der Gerichte zu beschließen, reicht für ihn jedenfalls nicht aus, man müsse auch nachweisen, dass man der Korruption tatsächlich nachhaltig Herr geworden sei.

Notwendig ist es nach Meinung von Hahn außerdem, die Wirtschaft in den betroffenen Ländern vor einem EU-Beitritt ausreichend zu stimulieren. Derzeit habe die EU-Bevölkerung den Eindruck, dass jedes neue EU-Mitglied eine Belastung für die EU sei. Es gelte danach zu trachten, dass neue Mitglieder wieder als Stärkung der europäischen Familie wahrgenommen werden.

Zur Frage eines EU-Beitritts der Türkei merkte Hahn an, man habe ergebnisoffene Verhandlungen vereinbart und solle sich auch daran halten. Er wolle die negativen Entwicklungen in der Türkei nicht verleugnen, meinte er, es wäre aber fair, die Verhandlungen zu Ende zu bringen, unabhängig vom Ausgang. Dazu gehöre es auch, alle Verhandlungskapitel zu eröffnen.

Allgemein wertete es Hahn als wichtig, in der Nachbarschaftspolitik auch die südlichen Nachbarländer der EU, im Konkreten die Mittelmeeranrainerstaaten, nicht zu vernachlässigen. Die europäische Nachbarschaftspolitik umfasse insgesamt 16 Länder, von Weißrussland bis Marokko, hob er hervor.

Bundesrat hat bereits 22 Subsidiaritätsrügen nach Brüssel geschickt
Anlass für die Erklärung Hahns in der Länderkammer war der fünfte Jahrestag des Inkrafttretens des EU-Vertrags von Lissabon. Mit dem seit 1. Dezember 2009 geltenden Vertrag wurde den nationalen Parlamenten mehr Mitsprachemöglichkeiten bei EU-Entscheidungen eingeräumt. Seither können der Bundesrat und der Nationalrat zu konkreten EU-Vorhaben Stellung beziehen und gegebenenfalls gemeinsam mit anderen Parlamenten die Stopptaste drücken. Insgesamt hat der EU-Ausschuss des Bundesrats bisher 22 Subsidiaritätsrügen nach Brüssel geschickt, dazu kommen noch mehr als zwei Dutzend Mitteilungen an die EU-Kommission (siehe auch: Parlamentskorrespondenz Nr. 1156/2014)

Hahn äußerte Lob und Anerkennung für die Arbeit des Bundesrats. "Bitte fahren Sie in dieser Art und Weise fort", appellierte er an die Mitglieder der Länderkammer. Laut Hahn erhält die EU-Kommission eine zunehmende Zahl von Stellungnahmen von den nationalen Parlamenten, besonders aktiv ist dabei der österreichische Bundesrat.

FPÖ fordert Ende der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei
Im Rahmen der an die Erklärung anschließenden Debatte schnitten die Bundesrätinnen und Bundesräte eine Vielzahl von Themen an. Unter anderem ging es um das Verhältnis zwischen der EU und Russland, die Weiterentwicklung der EU von einer Wirtschafts- zu einer Sozialunion, die laufenden Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, die hohe Arbeitslosigkeit in Österreich und das Thema Gewalt gegen Kinder.

So sprach sich der steirische FPÖ-Bundesrat Gerd Krusche etwa dafür aus, die seiner Ansicht nach aussichtslosen EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu beenden. Der Weg, den die Türkei eingeschlagen habe, führe das Land immer weiter von Europa weg, machte er geltend.

Bundesratspräsidentin Ana Blatnik (S/K) wies auf die großen Herausforderungen hin, vor denen Europa stehe. Die Probleme seien nur gemeinsam zu lösen, zeigte sie sich überzeugt. Voraussetzung für Stabilität und Solidarität ist ihrer Meinung nach aber soziale Gerechtigkeit, darauf müsse man in der EU daher besonderes Augenmerk legen.

Was die Arbeit des EU-Ausschusses betrifft, hielt Blatnik fest, dem österreichischen Bundesrat sei es in den vergangenen fünf Jahren in eindrucksvoller Weise gelungen, in einen politischen Dialog mit der EU-Kommission zu treten. Damit sei auch eine Europäisierung der Debatten in der Länderkammer einhergegangen. Im Anschluss an ihre Rede überreichte Blatnik EU-Kommissar Hahn zwei Briefe, in denen Kärntner und slowenische Jugendliche ihre Vision von Europa, ihre Wünsche und Anregungen, aber auch ihre Befürchtungen, festgehalten haben.

Auch der Grüne Bundesrat Efgani Dönmez (Oberösterreich) hob die Notwendigkeit hervor, die EU zu mehr als zu einer Wirtschaftsunion zu machen. Europa müsse auch zu einer Sozialunion werden, um mehr bei den Menschen anzukommen, betonte er. Dönmez sieht das Friedensprojekt Europa allerdings in Gefahr, dieses werde sowohl von innen – durch das Erstarken rechtsextremer Parteien – als auch von außen – durch terroristische Gruppierungen – bedroht.

ÖVP-Bundesrat Gottfried Kneifel (Oberösterreich) wies darauf hin, dass Europa nach wie vor in einer Phase des Umbruchs stehe. Es werde an den einzelnen Ländern liegen, aus dem Investitionspaket der EU Arbeit und Beschäftigung zu machen, betonte er. Wichtig ist es für Kneifel auch, das Bedürfnis der BürgerInnen nach einer regionalen Identität – als Antwort auf die allgemeinen Globalisierungstendenzen – ernst zu nehmen.

SPÖ-Bundesrat Rene Pfister (Niederösterreich) erachtet es als wesentlich, dass in der EU Arbeitnehmerrechte nicht unter die Räder kommen und sozialrechtliche Standards nicht nach unten nivelliert werden. Ein entschiedenes Auftreten forderte er auch gegen diverse Steuerzuckerl für Konzerne in einigen EU-Ländern.

Seitens des Team Stronach übte der niederösterreichische Bundesrat Gerald Zelina scharfe Kritik an den von der EU verhängten Sanktionen gegen Russland. Diese seien für Österreich und Europa extrem kontraproduktiv und hätten bereits zu in einer Art Wirtschaftskrieg geführt, beklagte er. Die EU brauche Russland aber und umgekehrt. Man solle daher danach trachten, dass diese beiden Nachbarn gut miteinander auskommen. Die Ukraine als Staat zu erhalten, müsse zwar, so Zelina, Priorität haben, aber nicht um jeden Preis. Insgesamt agiert die EU in der Ukraine-Frage seiner Meinung nach als unterwürfiges Kolonialanhängsel der USA, den Ton würden die US-Politik, die Hochfinanz und die Nato angeben.

Kritik an den EU-Sanktionen gegenüber Russland übte auch Bundesrat Hans-Jörg Jenewein (F/W). Zudem hob er die hohe Arbeitslosigkeit in Österreich hervor, die er nicht zuletzt auf die EU-Osterweiterung zurückführt.

Jeneweins Fraktionskollegin Monika Mühlwerth (Wien) betonte, auch als europakritische Partei könne ihre Fraktion der Arbeit der EU-Ausschusses des Bundesrats etwas positives abgewinnen. Dieser sei ein wichtiges Instrument, um die Interessen der Länder auf EU-Ebene vertreten zu können. Nach wie vor nicht anfreunden kann sich Mühlwerth hingegen mit dem Vertrag von Lissabon. Mit diesem wurde ihr zufolge der Grundstein für Milliardenzahlungen Österreich an Euro-Krisenländer sowie die Übernahme von Milliardenhaftungen gelegt, ohne dass die dortige Bevölkerung davon profitiert habe. "Sehr auf der Bremse stehen" will Mühlwerth auch, was die Aufnahme weiterer Länder in die EU betrifft.

Für den Grünen Bundesrat Marco Schreuder (Wien) gilt für die Nachbarschaftspolitik der EU das gleiche wie für das nachbarschaftliche Zusammenleben im eigenen Wohnumfeld. Es sei wichtig, dass man aufeinander aufpasse, meinte er. Eine besonders große Herausforderung ist für ihn die Situation in der Ukraine, dort sei die Bevölkerung auch ethnisch zutiefst gespalten.

Bundesrätin Daniela Gruber-Pruner (S/W) machte geltend, dass Frieden in Europa de facto das Kernprojekt der EU sei. Umso wichtiger erachtet sie es, in der EU generell großes Augenmerk auf das Thema gewaltfreie Konfliktaustragung zu legen, auch was das persönliche Umfeld betrifft. Für Gruber-Pruner ist es in diesem Sinn ein großes Manko, dass in zehn EU-Ländern Gewalt nach wie vor als legitimes Erziehungsmittel gilt, etwa in England, Belgien, Italien und Frankreich. Sie forderte in diesem Sinn die EU-Kommission auf, mehr gegen Gewalt gegen Kinder zu unternehmen. Zum neuen Aufgabenbereich von EU-Kommissar Hahn merkte Gruber-Pruner an, sie sehe seine Rolle auch als Vermittler zwischen der EU und den Nachbarländern.

Der Vorarlberger ÖVP-Bundesrat Edgar Mayer wandte sich gegen eine Überregulierung in Europa und hob in diesem Zusammenhang auch die Bedeutung der Subsidiarität hervor. Die geltende acht-Wochen-Frist für Subsidiaritätsrügen der nationalen Parlamente ist für ihn vor diesem Hintergrund viel zu kurz. Bemängelt wurde von Mayer außerdem, dass sich die EU-Kommission mit Stellungnahmen zu Subsidiaritätsrügen und Mitteilungen oftmals lange Zeit lasse.

Bundesrat Günther Köberl (V/St) setzte sich mit Balkanpolitik der EU auseinander und betonte, man dürfe den südosteuropäischen Ländern nicht die Perspektive nehmen, einmal Teil eines vereinten Europas zu sein. Wesentlich werde der Verhandlungsprozess sein.

Kritisch zu den von der EU abgeschlossenen bzw. angebotenen Assoziationsabkommen äußerte sich Bundesrätin Heidelinde Reiter (G/S). Sie sieht die Gefahr, dass mit diesen Abkommen neue Grenzen in Europa errichtet werden. Für die betroffenen Länder sei es aber wichtig, mit allen Nachbarn gute Beziehungen zu haben.

Dass ein EU-Kommissar an einer Debatte im Bundesrat teilnehmen kann, geht auf eine Ende 2011 beschlossene Änderung der Geschäftsordnung des Bundesrats zurück. Seither ist es möglich, "herausragende Persönlichkeiten der europäischen und internationalen Politik" zur Abgabe einer Erklärung in die Länderkammer einzuladen. Erstmals wurde diese Bestimmung im April 2013 angewendet, als der Präsident des Ausschusses der Regionen Ramon Luis Velcarcel mit den BundesrätInnen über die Rolle der Regionen in Europa diskutierte. Bereits 2006 hatte der damalige EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso eine Rede vor der Länderkammer gehalten, damals musste die Sitzung zu diesem Zweck jedoch noch unterbrochen werden.

 

 

 

zurück

 

 

 

 

Die Nachrichten-Rubrik "Österreich, Europa und die Welt"
widmet Ihnen der
Auslandsösterreicher-Weltbund

 

 

 

Kennen Sie schon unser kostenloses Monatsmagazin "Österreich Journal" in vier pdf-Formaten? Die Auswahl finden Sie unter http://www.oesterreichjournal.at