Sondersitzung zu fünf Jahre Vertrag von Lissabon
Wien (pk) – Es sei äußerst unwahrscheinlich, dass die Europäische Union in den nächsten
fünf Jahren weiter wachsen wird. Das richte sich nicht gegen potentielle Kandidatenländer, sondern sei
angesichts der bisher gemachten Erfahrungen mit Beitrittsverhandlungen ein technisches Faktum. Das betonte der
österreichische EU-Kommissar Johannes Hahn am 02,12. bei einer außerplanmäßigen Sitzung des
Bundesrats. Hahn hat in der EU-Kommission vor kurzem die Aufgabenbereiche EU-Nachbarschaftspolitik und Erweiterung
übernommen und will sich in dieser Funktion um ein möglichst gutes Verhältnis zu allen EU-Nachbarn
bemühen, wie er gegenüber den Mitgliedern der Länderkammer betonte. Dabei müsse man aber stärker
als bisher auf die Interessen der EU fokussieren, bekräftigte er.
Was das derzeit angespannte Verhältnis zwischen der EU und Russland betrifft, sieht Hahn angesichts der jüngsten
Entwicklungen in erster Linie Russland gefordert, eine Initiative zur Entspannung zu ergreifen. Die EU habe immer
klar gemacht, dass sie keine expansionistischen Bestrebungen verfolge, unterstrich er. Vielmehr liege es im Interesse
der EU, dass es allen Nachbarn gut gehe. Das gelte auch für Russland.
Generell hielt der österreichische EU-Kommissar fest, die EU habe durchaus Anlass, selbstbewusst zu sein,
in Anbetracht dessen, was in der Vergangenheit geleistet wurde. Europa brauche aber auch die Fähigkeit, sich
immer wieder selbst zu erneuern, damit es im globalen Wettbewerb nicht überholt werde und unter die Räder
komme.
Was die Arbeit der EU-Kommission in den nächsten 5 Jahren betrifft, machte Hahn auf die Festlegung von EU-Kommissionspräsident
Jean-Claude Juncker aufmerksam, einige wenige Themenkomplexe ins Zentrum zu rücken, sich mit diesen aber umso
intensiver zu beschäftigen. Konkret nannte er die wirtschaftliche Konsolidierung der Union, den Ausbau der
sozialen Dimension, die digitale Agenda, deren Bedeutung nach Meinung von Hahn unterschätzt wird, sowie die
Europäische Außen- und Sicherheitspolitik. Innerhalb der Kommission hat sich laut Hahn jedenfalls einiges
geändert, nur 5 der 28 Kommissionsmitglieder haben bereits der alten Kommission angehört.
Um die europäische Wirtschaft zu stimulieren und durch die Gründung neuer Unternehmen zusätzliche
Arbeitsplätze zu generieren, müsse man auch kleine und mittlere Betriebe unterstützen, betonte Hahn.
Diese seien das Rückgrat der europäischen Wirtschaft. Aber auch die Interessen der Industrie dürfe
man nicht aus den Augen verlieren. Als ein gelungenes Beispiel für eine grenzüberschreitende industrielle
Kooperation in Europa nannte Hahn das europäische Flugzeugcluster Airbus.
Bei der Wirtschaftspolitik gilt es laut Hahn außerdem zu berücksichtigen, dass keine Region so international
ausgerichtet sei wie Europa. Keine andere Region habe derart viele externe Investoren angelockt, umgekehrt sei
auch Europa international ein beachtlicher Investor. Jeder fünfte Arbeitsplatz in Europa, in Österreich
sogar jeder vierte, sei von der Exportwirtschaft abhängig, skizzierte er.
Zum Thema EU-Erweiterung meinte Hahn, jedes Land, das einen EU-Beitritt anstrebe, lege die Geschwindigkeit des
Beitrittsprozesses im Prinzip selbst fest. Von Seiten der EU will er allerdings einen stärkeren Fokus darauf
richten, dass die Kandidatenländer zum Zeitpunkt des EU-Beitritts tatsächlich EU-fit sind. Das sei in
der Vergangenheit nicht immer der Fall gewesen, räumte er ein. Gesetze gegen Korruption und zur Stärkung
der Unabhängigkeit der Gerichte zu beschließen, reicht für ihn jedenfalls nicht aus, man müsse
auch nachweisen, dass man der Korruption tatsächlich nachhaltig Herr geworden sei.
Notwendig ist es nach Meinung von Hahn außerdem, die Wirtschaft in den betroffenen Ländern vor einem
EU-Beitritt ausreichend zu stimulieren. Derzeit habe die EU-Bevölkerung den Eindruck, dass jedes neue EU-Mitglied
eine Belastung für die EU sei. Es gelte danach zu trachten, dass neue Mitglieder wieder als Stärkung
der europäischen Familie wahrgenommen werden.
Zur Frage eines EU-Beitritts der Türkei merkte Hahn an, man habe ergebnisoffene Verhandlungen vereinbart und
solle sich auch daran halten. Er wolle die negativen Entwicklungen in der Türkei nicht verleugnen, meinte
er, es wäre aber fair, die Verhandlungen zu Ende zu bringen, unabhängig vom Ausgang. Dazu gehöre
es auch, alle Verhandlungskapitel zu eröffnen.
Allgemein wertete es Hahn als wichtig, in der Nachbarschaftspolitik auch die südlichen Nachbarländer
der EU, im Konkreten die Mittelmeeranrainerstaaten, nicht zu vernachlässigen. Die europäische Nachbarschaftspolitik
umfasse insgesamt 16 Länder, von Weißrussland bis Marokko, hob er hervor.
Bundesrat hat bereits 22 Subsidiaritätsrügen nach Brüssel geschickt
Anlass für die Erklärung Hahns in der Länderkammer war der fünfte Jahrestag des Inkrafttretens
des EU-Vertrags von Lissabon. Mit dem seit 1. Dezember 2009 geltenden Vertrag wurde den nationalen Parlamenten
mehr Mitsprachemöglichkeiten bei EU-Entscheidungen eingeräumt. Seither können der Bundesrat und
der Nationalrat zu konkreten EU-Vorhaben Stellung beziehen und gegebenenfalls gemeinsam mit anderen Parlamenten
die Stopptaste drücken. Insgesamt hat der EU-Ausschuss des Bundesrats bisher 22 Subsidiaritätsrügen
nach Brüssel geschickt, dazu kommen noch mehr als zwei Dutzend Mitteilungen an die EU-Kommission (siehe auch:
Parlamentskorrespondenz Nr. 1156/2014)
Hahn äußerte Lob und Anerkennung für die Arbeit des Bundesrats. "Bitte fahren Sie in dieser
Art und Weise fort", appellierte er an die Mitglieder der Länderkammer. Laut Hahn erhält die EU-Kommission
eine zunehmende Zahl von Stellungnahmen von den nationalen Parlamenten, besonders aktiv ist dabei der österreichische
Bundesrat.
FPÖ fordert Ende der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei
Im Rahmen der an die Erklärung anschließenden Debatte schnitten die Bundesrätinnen und Bundesräte
eine Vielzahl von Themen an. Unter anderem ging es um das Verhältnis zwischen der EU und Russland, die Weiterentwicklung
der EU von einer Wirtschafts- zu einer Sozialunion, die laufenden Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, die
hohe Arbeitslosigkeit in Österreich und das Thema Gewalt gegen Kinder.
So sprach sich der steirische FPÖ-Bundesrat Gerd Krusche etwa dafür aus, die seiner Ansicht nach aussichtslosen
EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu beenden. Der Weg, den die Türkei eingeschlagen habe, führe
das Land immer weiter von Europa weg, machte er geltend.
Bundesratspräsidentin Ana Blatnik (S/K) wies auf die großen Herausforderungen hin, vor denen Europa
stehe. Die Probleme seien nur gemeinsam zu lösen, zeigte sie sich überzeugt. Voraussetzung für Stabilität
und Solidarität ist ihrer Meinung nach aber soziale Gerechtigkeit, darauf müsse man in der EU daher besonderes
Augenmerk legen.
Was die Arbeit des EU-Ausschusses betrifft, hielt Blatnik fest, dem österreichischen Bundesrat sei es in den
vergangenen fünf Jahren in eindrucksvoller Weise gelungen, in einen politischen Dialog mit der EU-Kommission
zu treten. Damit sei auch eine Europäisierung der Debatten in der Länderkammer einhergegangen. Im Anschluss
an ihre Rede überreichte Blatnik EU-Kommissar Hahn zwei Briefe, in denen Kärntner und slowenische Jugendliche
ihre Vision von Europa, ihre Wünsche und Anregungen, aber auch ihre Befürchtungen, festgehalten haben.
Auch der Grüne Bundesrat Efgani Dönmez (Oberösterreich) hob die Notwendigkeit hervor, die EU zu
mehr als zu einer Wirtschaftsunion zu machen. Europa müsse auch zu einer Sozialunion werden, um mehr bei den
Menschen anzukommen, betonte er. Dönmez sieht das Friedensprojekt Europa allerdings in Gefahr, dieses werde
sowohl von innen – durch das Erstarken rechtsextremer Parteien – als auch von außen – durch terroristische
Gruppierungen – bedroht.
ÖVP-Bundesrat Gottfried Kneifel (Oberösterreich) wies darauf hin, dass Europa nach wie vor in einer Phase
des Umbruchs stehe. Es werde an den einzelnen Ländern liegen, aus dem Investitionspaket der EU Arbeit und
Beschäftigung zu machen, betonte er. Wichtig ist es für Kneifel auch, das Bedürfnis der BürgerInnen
nach einer regionalen Identität – als Antwort auf die allgemeinen Globalisierungstendenzen – ernst zu nehmen.
SPÖ-Bundesrat Rene Pfister (Niederösterreich) erachtet es als wesentlich, dass in der EU Arbeitnehmerrechte
nicht unter die Räder kommen und sozialrechtliche Standards nicht nach unten nivelliert werden. Ein entschiedenes
Auftreten forderte er auch gegen diverse Steuerzuckerl für Konzerne in einigen EU-Ländern.
Seitens des Team Stronach übte der niederösterreichische Bundesrat Gerald Zelina scharfe Kritik an den
von der EU verhängten Sanktionen gegen Russland. Diese seien für Österreich und Europa extrem kontraproduktiv
und hätten bereits zu in einer Art Wirtschaftskrieg geführt, beklagte er. Die EU brauche Russland aber
und umgekehrt. Man solle daher danach trachten, dass diese beiden Nachbarn gut miteinander auskommen. Die Ukraine
als Staat zu erhalten, müsse zwar, so Zelina, Priorität haben, aber nicht um jeden Preis. Insgesamt agiert
die EU in der Ukraine-Frage seiner Meinung nach als unterwürfiges Kolonialanhängsel der USA, den Ton
würden die US-Politik, die Hochfinanz und die Nato angeben.
Kritik an den EU-Sanktionen gegenüber Russland übte auch Bundesrat Hans-Jörg Jenewein (F/W). Zudem
hob er die hohe Arbeitslosigkeit in Österreich hervor, die er nicht zuletzt auf die EU-Osterweiterung zurückführt.
Jeneweins Fraktionskollegin Monika Mühlwerth (Wien) betonte, auch als europakritische Partei könne ihre
Fraktion der Arbeit der EU-Ausschusses des Bundesrats etwas positives abgewinnen. Dieser sei ein wichtiges Instrument,
um die Interessen der Länder auf EU-Ebene vertreten zu können. Nach wie vor nicht anfreunden kann sich
Mühlwerth hingegen mit dem Vertrag von Lissabon. Mit diesem wurde ihr zufolge der Grundstein für Milliardenzahlungen
Österreich an Euro-Krisenländer sowie die Übernahme von Milliardenhaftungen gelegt, ohne dass die
dortige Bevölkerung davon profitiert habe. "Sehr auf der Bremse stehen" will Mühlwerth auch,
was die Aufnahme weiterer Länder in die EU betrifft.
Für den Grünen Bundesrat Marco Schreuder (Wien) gilt für die Nachbarschaftspolitik der EU das gleiche
wie für das nachbarschaftliche Zusammenleben im eigenen Wohnumfeld. Es sei wichtig, dass man aufeinander aufpasse,
meinte er. Eine besonders große Herausforderung ist für ihn die Situation in der Ukraine, dort sei die
Bevölkerung auch ethnisch zutiefst gespalten.
Bundesrätin Daniela Gruber-Pruner (S/W) machte geltend, dass Frieden in Europa de facto das Kernprojekt der
EU sei. Umso wichtiger erachtet sie es, in der EU generell großes Augenmerk auf das Thema gewaltfreie Konfliktaustragung
zu legen, auch was das persönliche Umfeld betrifft. Für Gruber-Pruner ist es in diesem Sinn ein großes
Manko, dass in zehn EU-Ländern Gewalt nach wie vor als legitimes Erziehungsmittel gilt, etwa in England, Belgien,
Italien und Frankreich. Sie forderte in diesem Sinn die EU-Kommission auf, mehr gegen Gewalt gegen Kinder zu unternehmen.
Zum neuen Aufgabenbereich von EU-Kommissar Hahn merkte Gruber-Pruner an, sie sehe seine Rolle auch als Vermittler
zwischen der EU und den Nachbarländern.
Der Vorarlberger ÖVP-Bundesrat Edgar Mayer wandte sich gegen eine Überregulierung in Europa und hob in
diesem Zusammenhang auch die Bedeutung der Subsidiarität hervor. Die geltende acht-Wochen-Frist für Subsidiaritätsrügen
der nationalen Parlamente ist für ihn vor diesem Hintergrund viel zu kurz. Bemängelt wurde von Mayer
außerdem, dass sich die EU-Kommission mit Stellungnahmen zu Subsidiaritätsrügen und Mitteilungen
oftmals lange Zeit lasse.
Bundesrat Günther Köberl (V/St) setzte sich mit Balkanpolitik der EU auseinander und betonte, man dürfe
den südosteuropäischen Ländern nicht die Perspektive nehmen, einmal Teil eines vereinten Europas
zu sein. Wesentlich werde der Verhandlungsprozess sein.
Kritisch zu den von der EU abgeschlossenen bzw. angebotenen Assoziationsabkommen äußerte sich Bundesrätin
Heidelinde Reiter (G/S). Sie sieht die Gefahr, dass mit diesen Abkommen neue Grenzen in Europa errichtet werden.
Für die betroffenen Länder sei es aber wichtig, mit allen Nachbarn gute Beziehungen zu haben.
Dass ein EU-Kommissar an einer Debatte im Bundesrat teilnehmen kann, geht auf eine Ende 2011 beschlossene Änderung
der Geschäftsordnung des Bundesrats zurück. Seither ist es möglich, "herausragende Persönlichkeiten
der europäischen und internationalen Politik" zur Abgabe einer Erklärung in die Länderkammer
einzuladen. Erstmals wurde diese Bestimmung im April 2013 angewendet, als der Präsident des Ausschusses der
Regionen Ramon Luis Velcarcel mit den BundesrätInnen über die Rolle der Regionen in Europa diskutierte.
Bereits 2006 hatte der damalige EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso eine Rede vor der Länderkammer
gehalten, damals musste die Sitzung zu diesem Zweck jedoch noch unterbrochen werden.
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