München/Stuttgart (idw) - Geringe Mengen des medizinisch vielfach eingesetzten Nervengifts Atropin können
kurzsichtigen Kindern gegen ihre Sehschwäche helfen, berichten Wissenschaftler in der Fachzeitschrift „American
Journal of Ophthalmology“. Experten der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) sehen in diesen Ergebnissen
einen ergänzenden Weg, das Fortschreiten von Kurzsichtigkeit bei Kindern und Jugendlichen zukünftig einzudämmen.
Ophthalmologen vom Singapore National Eye Center untersuchten 400 kurzsichtige Kinder im Alter von sechs bis zwölf
Jahren. Über einen Beobachtungszeitraum von fünf Jahren gaben sie den kleinen Patienten entweder Augentropfen
mit unterschiedlichen Atropinkonzentrationen oder einen Placebo. Die geringste Atropin-Dosis konnte das Fortschreiten
der Kurzsichtigkeit nach fünf Jahren um bis zu 80 Prozent verzögern. „Die Ergebnisse geben Anlass zu
hoffen, dass wir kurzsichtige Kinder zukünftig davor bewahren können, einen großen Teil ihrer Sehkraft
zu verlieren“, sagt Professor Dr. med. Christian Ohrloff, Mediensprecher der DOG aus Frankfurt. In jedem Fall müssten
Nebenwirkungen genau geprüft und ausgeschlossen sein. Kinder vertragen Atropin nur in geringsten Mengen.
Häufigkeit und Schwere von Kurzsichtigkeit haben in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen. In allen Industrienationen
ist mindestens ein Drittel der Bevölkerung kurzsichtig, in einigen asiatischen Ländern liegt der Anteil
sogar bei 90 Prozent. Ursache der Sehschwäche ist ein zu langer Augapfel: Lichtstrahlen, die ins Auge fallen,
bilden ihren Brennpunkt nicht auf, sondern vor der Netzhaut, sodass das Bild verschwommen erscheint. Der Augapfel
wächst bei einigen Menschen bis zum 30. Lebensjahr. Deshalb verstärkt sich Kurzsichtigkeit häufig
bis zum Erwachsenenalter. „Je früher sie im Kindesalter einsetzt, desto mehr Sehkraft wird der Betroffene
bis zum Erwachsenenalter verlieren“, erklärt Ohrloff. Gleichzeitig drohen Folgeerkrankungen: Schon bei einer
leichten Kurzsichtigkeit von -1 bis -3 Dioptrien verdoppelt sich das Risiko auf Netzhautablösung, grünen
oder grauen Star.
Warum immer mehr Menschen kurzsichtig werden, ist noch nicht endgültig geklärt. „Studien haben gezeigt,
dass neben den Genen auch Umweltfaktoren wie Bildung, Beruf und Freizeitgestaltung eine entscheidende Rolle spielen“,
sagt Professor Dr. rer. net. Frank Schaeffel vom Forschungsinstitut für Augenheilkunde am Universitätsklinikum
Tübingen. „Auch Naharbeit wie stundenlanges Lesen, Fernsehen und Arbeiten am Computer sowie ein Mangel an
Tageslicht scheinen das Sehvermögen zu mindern.“
Atropin ist das Gift der Tollkirsche, das in der Medizin bereits vielseitig Verwendung findet. Augenärzte
nutzen es zur Erweiterung der Pupillen um den Augenhintergrund besser untersuchen zu können. Ob der Atropin-Effekt
nachhaltig wirkt und welche Nebenwirkungen die Behandlung haben kann, wollen die Autoren nun in weiteren Studien
untersuchen.
DOG: Forschung – Lehre – Krankenversorgung
Die DOG ist die medizinisch-wissenschaftliche Fachgesellschaft für Augenheilkunde in Deutschland. Sie
vereint unter ihrem Dach mehr als 6500 Ärzte und Wissenschaftler, die augenheilkundlich forschen, lehren und
behandeln. Wesentliches Anliegen der DOG ist es, die Forschung in der Augenheilkunde zu fördern: Sie unterstützt
wissenschaftliche Projekte und Studien, veranstaltet Kongresse und gibt wissenschaftliche Fachzeitschriften heraus.
Darüber hinaus setzt sich die DOG für den wissenschaftlichen Nachwuchs in der Augenheilkunde ein, indem
sie zum Beispiel Stipendien vor allem für junge Forscher vergibt. Gegründet im Jahr 1857 in Heidelberg
ist die DOG die älteste medizinisch-wissenschaftliche Fachgesellschaft der Welt.
Literatur:
A. Chia et al. Atropine for the Treatment of Childhood Myopia: Safety
and Efficacy of 0.5%, 0.1% and 0.01% Doses (Atropine for the Treatment of Myopia 2), Am J Ophthalmol 2014; 157:
451-4
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