Helden und Hochverräter des Parlaments der Monarchie im Zentrum einer Veranstaltung im
Hohen Haus
Wien (pk) – Der Reichsrat der Donaumonarchie bietet ein Kaleidoskop Mitteleuropas von der Mitte des 19.
Jahrhunderts bis weit über das Ende der alten Welt nach dem Ersten Weltkrieg hinaus. Gerade in seinen Mitgliedern
spiegelt sich die wechselvolle Geschichte des Habsburgerreiches und des mitteleuropäischen Raums – von Bregenz
bis Brody, von Broumov bis Triest und Kotor. Aus Hochverrätern wurden Minister, aus Helden wieder Hochverräter,
und dazwischen finden sich Papierdiebe, Millionäre, Bankrotteure, Heilige und Betrüger. Eine Veranstaltung,
zu der Nationalratspräsidentin Doris Bures gemeinsam mit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
in den Historischen Sitzungssaal des Hohen Hauses einlud, war am 17.02. den beinahe 3.500 Mitgliedern des Reichsrats
aus der Zeit von 1848 bis 1918 gewidmet und beleuchtete dabei vor allem das berufliche, gesellschaftliche und politische
Leben der Parlamentarier während und nach ihrer Mitgliedschaft im Hohen Haus.
Bures erinnert an Mark Twains Wiener Parlamentsreportagen
Nationalratspräsidentin Doris Bures erinnerte an den US-amerikanischen Schriftsteller Mark Twain, der zwischen
1897 und 1899 bei seinem Aufenthalt in Wien als interessierter Beobachter des politischen Geschehens auch einige
turbulente Sitzungen des Reichsrats von der Galerie aus miterlebte. Der exzessive Obstruktionismus, von dem er
in seinen Reportagen wortreich berichtete, mache anschaulich, in welch ein Chaos ein unterentwickelter Parlamentarismus
und politische Unkultur führen können, meinte sie. Die Erfahrungen aus dem Reichsrat der Monarchie seien
jedenfalls wichtig für den heutigen Diskurs über die demokratische Kultur.
Adlgasser berichtet von wechselvollen Parlamentarierschicksalen
Aus der Geschichte des Reichsrats können wir Anregungen finden, die uns bei der Lösung von Problemen
des heutigen Parlamentarismus, so etwa hinsichtlich der Notwendigkeit von Kompromissen, helfen, bestätigte
auch der Historiker Franz Adlgasser, der vor allem auf die oft erstaunlichen Karrieren der Reichsratsmitglieder
aufmerksam machte. So saßen im Abgeordnetenhaus von 1848 sechs Parlamentarier, die wenige Jahre zuvor noch
zum Tode verurteilt wurden, vier Abgeordneten aus 1848 wiederum wurden nach ihrer Flucht in Abwesenheit zum Tode
verurteilt. Im Verlauf des Ersten Weltkriegs schließlich wurden fünf Abgeordnete zum Tode verurteilt,
einer, Cesare Battisti, wurde tatsächlich hingerichtet. Prominente europäische Politiker wie Tomas Masaryk
oder Alcide De Gasperi begannen ihre Laufbahn als altösterreichische Parlamentarier. Adlgasser erinnerte aber
auch an zahlreiche Mitglieder des Reichsrats, die später Opfer des nationalsozialistischen bzw. des stalinistischen
Terrors wurden.
Der Reichsrat als Modell für Europa?
Die Frage, ob nun der Reichsrat als Modell für das neue Europa gesehen werden könne, wurde im Rahmen
einer Diskussion aufgeworfen. Der Botschafter Sloweniens, Andrej Rahten, attestierte dem Parlament der Monarchie
zwar, den Leitgedanken der Gleichberechtigung der Völker vorangetrieben zu haben, ortete aber große
Unterschiede zwischen Theorie und Praxis. So sei es nicht gelungen, über die Grenzen der Nationalitäten
hinweg politische Parteien zu gründen, auch habe die deutsche Sprache trotz der prinzipiellen Gleichbehandlung
aller Sprachen de facto eine hegemoniale Rolle eingenommen. Die Präsidentin der Philosophisch-Historischen
Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Brigitte Mazohl, hob ebenfalls die Gleichberechtigung
der Nationalitäten hervor und stellte fest, die Art, wie versucht wurde, mit einer äußerst komplexen
Situation umzugehen, könne durchaus als Modell für Europa dienen. Die Spielregeln haben trotz des mitunter
exzessiven Obstruktionismus funktioniert, befand der Historiker Robert Luft.
Biographisches Lexikon gibt Auskunft über 3.500 Reichsratsabgeordnete
Anknüpfungspunkt der Veranstaltung war das im Oktober 2014 am Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichteforschung
der Österreichischen Akademie der Wissenschaften erschienene zweibändige Werk "Die Mitglieder der
österreichischen Zentralparlamente 1848-1918. Ein biografisches Lexikon". Franz Adlgasser rückt
darin anhand von biographischen und parlamentarischen Grunddaten und Angaben zum familiären Umfeld diese politische
und gesellschaftliche Führungsgruppe erstmals in den Blick der Öffentlichkeit.
Historischer "Abfall" ermöglicht Einblick in den Alltag der Abgeordneten
Im Rahmen der Veranstaltung stellte die Parlamentsbibliothek in der Säulenhalle das Februarpatent aus dem
Jahr 1861 aus, das darauf abzielte, ein gemeinsames Parlament für die Gesamtmonarchie zu schaffen. Gezeigt
wurden zudem auch Fundstücke aus dem Historischen Sitzungssaal, die bei Umbauarbeiten im Jahr 2013 zu Tage
traten. Die Palette dieses historischen "Abfalls" umfasst Redenotizen, alte Straßenbahnfahrscheine,
Ansichtskarten, Bittgesuche, aber auch eine Original-Bierflasche aus der Zeit um 1930 samt dazugehörigem Jausensackerl.
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