TTIP – eine Analyse aus europäischer Perspektive

 

erstellt am
26. 02. 15
11.00 MEZ

Wien (ögfe) - Die multilateralen Freihandelsverhandlungen im Rahmen der Doha-Runde der Welthandelsorganisation (WTO) haben seit 2003 sehr wenige Fortschritte gemacht. Aus diesem Grund hat die EU entschieden, verstärkt auf bilaterale Handelsabkommen zu setzen. Mit dem 2011 in Kraft getretenen Freihandelsabkommen zwischen der EU und Südkorea wurde eine neue Generation von „tiefen“ Abkommen geschaffen, die weit über die klassische Handelsliberalisierung durch Abbau von Zollbarrieren für Güter und Dienstleistungen hinausgehen. Wichtige Bestandteile dieser Abkommen sind der Abbau von „nicht-tarifären“ Handelshemmnissen durch Harmonisierung von Produktstandards, die Öffnung des öffentlichen Beschaffungswesens für ausländische Anbieter, Investitionsschutz, Schutz von intellektuellen Eigentumsrechten und Freihandel von Energie. Dem Abkommen mit Südkorea folgten weitere mit Singapur (2013) und mit Kanada (2014). Die Verhandlungen mit den USA über das sogenannte Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP) wurden im Juni 2013 im Rahmen eines G8-Gipfels aufgenommen. Ein weiteres Freihandelsabkommen mit China steht bereits zur Diskussion. Ursprünglich war geplant, das Abkommen mit den USA noch unter der Kommission Barroso fertig zu verhandeln, aber von einem Abschluss der Verhandlungen ist man nun, zu Beginn des Jahres 2015, noch weit entfernt. Dazu kommt, dass Präsident Obama bislang vom Kongress noch keine „fast track“-Autorität zugesprochen bekommen hat, welche verhindern würde, dass ein bereits fertig verhandeltes Abkommen vom Kongress vor der Ratifizierung nochmals aufgebrochen würde.

Gleichzeitig mehren sich auf beiden Seiten des Atlantiks kritische Stimmen, die einen Abbau von Konsumentenschutz und Produktsicherheit, sowie eine Aufweichung von Umwelt- und Arbeitsstandards durch TTIP befürchten. Wann also die Verhandlungen abgeschlossen sein werden und ob das fertige Abkommen die Zustimmung der europäischen und US-amerikanischen BürgerInnen erhalten wird, ist im Moment noch höchst unklar. Der vorliegende Policy Brief versucht, einige der Argumente für und wider TTIP abzuwägen und darauf basierend eine Handlungsempfehlung abzugeben.

Quantitative Effekte
Zunächst komme ich auf die zu erwartenden volkswirtschaftlichen Auswirkungen von TTIP zu sprechen. Hierbei gehe ich vor allem auf die Effekte auf Wachstum und Exporte ein, wobei ich mich in erster Linie auf die Studie von Francois et al. [1] für die EU-Kommission stütze und diese kritisch beleuchte. Auswirkungen auf die Einkommensverteilung in den beiden Volkswirtschaften, sowie auf Drittstaaten, insbesondere auf Entwicklungsländer können hier aus Platzgründen nicht besprochen werden, diese werden in der obigen Studie jedoch ebenfalls angeschnitten. Da die EU und die USA ein sehr ähnliches Lohn- und Entwicklungsniveau haben sind plausibler Weise auch keine größeren Umverteilungseffekte und keine negativen Auswirkungen auf die Löhne in den beiden Ländern zu erwarten.[2]

Die USA sind - gemeinsam mit China - der wichtigste Handelspartner der EU. 17% aller EU-Exporte gehen in die USA und ca. 11% der EU-Importe stammen aus den USA. Ex ante würde man daher davon ausgehen, dass ein Freihandelsabkommen zwischen diesen beiden Wirtschaftsregionen signifikante ökonomische Effekte haben sollte. Dem steht allerdings entgegen, dass die bestehenden bilateralen Zollschranken bereits sehr gering sind, was den Spielraum für weitere Zollreduktionen stark einschränkt. Der durchschnittliche Zollsatz liegt bei jeweils knapp unter 3 Prozent.[3] Dementsprechend liegen die Erwartungen für Außenhandelsgewinne vor allem auf dem Abbau nicht-tarifärer Handelshemmnisse, worunter in erster Linie die Harmonisierung von Produktstandards fällt.

Die Studie von Francois et al. versucht, die langfristigen Effekte (bis 2027) verschiedener TTIP Liberalisierungsszenarien auf die EU- und die US-Volkswirtschaft zu analysieren. Sie simuliert drei hypothetische Szenarien, die jeweils unterschiedliche Tiefen ökonomischer Integration darstellen. Das erste Szenario, welches eine Minimallösung repräsentiert, nimmt einen praktisch völligen Abbau aller Zollschranken an, sieht jedoch von jeglicher Harmonisierung von Produktstandards ab. Die Simulation sagt in diesem Fall eine geringfügige Erhöhung des EU-Bruttoinlandsprodukts um 0.1 Prozentpunkte (im Vergleich zu einer Situation ohne TTIP) voraus, während die EU-Gesamtexporte um 1.18 % und jene in die USA um signifikante 6.6 % wachsen würden.[4]

Das zweite und dritte Szenario simulieren jeweils Situationen, in denen zusätzlich zum vollständigen Zollabbau sowohl nicht-tarifäre Handelshemmnisse durch Harmonisierung von Produktstandards abgebaut werden, als auch der Markt für öffentliches Beschaffungswesen geöffnet wird. Die ökonomischen Effekte dieser Szenarios wären mit einer Steigerung des EU-Bruttoinlandsprodukts von 0.27-0.5 Prozent ca. drei- bis fünfmal so groß wie bei einem bloßen Zollabbau. Ein großer Teil der positiven Effekte wären laut Modell auf die Angleichung von Produktstandards im Industriebereich zurückzuführen, während die Angleichung von Standards im Dienstleistungsbereich nur marginale Effekte erwarten ließe.

Soweit die recht nüchternen Zahlen der Studie. Doch wie zuverlässig sind diese? Das den Simulationen zugrundeliegende Modell spiegelt den Stand der Forschung der 1990er Jahre wider und vernachlässigt die Entwicklungen der letzten 15 Jahre, die vor allem die Rolle von Firmenheterogenität in den Vordergrund gestellt haben.[5] Trotzdem ist anzuerkennen, dass mit sehr ähnlichen Modellen, wie dem von den Autoren verwendeten, in der Vergangenheit einigermaßen zuverlässige aggregierte Vorhersagen über den Effekt von Zollreduktionen gemacht werden konnten. Eine wichtige Einschränkung der Vergleichbarkeit mit vergangenen Liberalisierungen ist jedoch, dass im Fall von TTIP der Abbau von Zollbarrieren nur eine geringe Rolle spielt, während die Harmonisierung von Produktstandards im Vordergrund steht. Diese stellt im Gegensatz zur Modellierung von Francois et al. eine Reduktion der fixen und nicht der variablen Exportkosten dar.[6] Das ist aus mehreren Gründen ein gravierendes Problem. Erstens gibt es nach meinem Wissen keinerlei Studien darüber, wie stark durch die Harmonisierung von Produktstandards die Exportfixkosten gesenkt werden können. Zweitens begünstigt eine Reduktion von Exportfixkosten in erster Linie kleinere, weniger produktive Unternehmen, die nun zu exportieren beginnen können. Inwiefern das der aggregierte Ansatz des in der Studie verwendeten Modells abbilden kann, ist schwer einzuschätzen.[7]

Zusammenfassend ist zu sagen, dass keine seriösen Angaben über die quantitativen Effekte von TTIP gemacht werden können, da keine entsprechenden Studien und Erfahrungswerte über die Harmonisierung von Produktstandards vorliegen.

Nicht-tarifäre Handelsbarrieren und Harmonisierung von Regulierung
Da die Zollbarrieren zwischen der EU und den USA bereits sehr niedrig sind, stehen bei TTIP nicht-tarifäre Handelsbarrieren im Mittelpunkt. Manche dieser Beschränkungen, wie etwa Quoten, zielen explizit darauf ab, den Handel zu beschränken und können durch politische Entscheidungen einfach entfernt werden. Andere nicht-tarifäre Handelshemmnisse entstehen jedoch durch Regulierung, die etwa auf den Schutz von Gesundheit, oder Umwelt abzielt. Diese Handelsbarrieren sind nicht leicht zu reduzieren, da sie legitime öffentliche Ziele verfolgen und nicht einfach beseitigt werden können oder sollen. Oft verursacht Regulierung für Unternehmen jedoch unnötige zusätzliche Kosten, wenn sie ihr Produkt exportieren wollen: in anderen Ländern gelten oft unterschiedliche Vorschriften, welche jedoch meist auf denselben Zweck abzielen wie jene im Heimatmarkt. Diese unterschiedlichen Regeln machen eine kostspielige Adaptierung des Produktes für den jeweils anderen Markt notwendig und führen daher zu zusätzlichen fixen Marktzugangskosten. Es gibt prinzipiell drei mögliche Wege, um solche Mehrfachkosten zu vermeiden. Erstens, gegenseitige Anerkennung von existierenden, mehr oder weniger äquivalenten Standards, zweitens Harmonisierung bestehender unterschiedlicher Standards und drittens langfristige Konvergenz der Regulierung für zukünftige Entwicklungen. Die Koordination der Regulierung ist zweifelsohne in jenen Fällen am einfachsten, bei denen es um die gemeinsame Entwicklung neuer Standards geht. Aus diesem Grund ist zu erwarten, dass signifikant niedrigere Handelshemmnisse durch gemeinsame Standards sich erst sehr langfristig – etwa im Verlauf von 10 bis 20 Jahren – manifestieren würden.

Eine große Hürde bei der Harmonisierung bzw. gegenseitigen Anerkennung von Standards stellt meiner Ansicht nach die unterschiedliche Herangehensweise der Kommission im Vergleich zur US-Gesetzgebung dar. Während in Europa in vielen Bereichen, etwa bei der Zulassung von Lebensmitteln, genetisch veränderten Organismen, im Gesundheits- oder im Umweltbereich, das Vorsorgeprinzip zur Anwendung kommt, ist dieses im US-amerikanischen Recht weitgehend unbekannt. Dieses Prinzip sieht eine Beweislastumkehr vor, bei der vor der Zulassung eines Produktes erwiesen sein muss, dass keine Gefahr von diesem ausgeht und falls das nicht ausgeschlossen werden kann, eine Zulassung nicht erfolgt. Im Gegensatz dazu gilt in den USA das umgekehrte Prinzip, dass Produkte zuzulassen sind, sofern nicht erwiesen ist, dass von ihnen Gefahr ausgeht. Hier einen Kompromiss zwischen der EU und den USA zu finden, der die zweifelsohne strikteren EU-Standards nicht zu sehr verwässert, wird nicht einfach sein. Andererseits haben die USA seit der Finanzkrise 2008 eine weit striktere Regulierung von Finanzinstitutionen eingeführt als die EU.[8] TTIP wäre eine Chance, die – meines Erachtens nach zu laxen -- EU-Standards in diesem Bereich an jene der USA anzupassen. Arbeitnehmerrechte stehen zwar nicht direkt zur Verhandlung, jedoch sollte die EU darauf drängen, dass die USA im Rahmen des Abkommens die Kern-ILO-Konventionen unterzeichnen.

Um eine effiziente Harmonisierung von Standards zu erreichen, ist die Einrichtung eines gemeinsamen Koordinationsgremiums geplant, welches schon vorab zukünftige Gesetzesvorhaben hinsichtlich ihrer Auswirkung auf die bilateralen Handelsbarrieren überprüfen soll. Entscheidend ist meiner Ansicht nach, dass es sich bei diesem Gremium um eine reine Expertenkommission handeln sollte, in der Interessensvertreter nicht repräsentiert sein dürfen. Ansonsten würde Lobbyisten schon in einer sehr frühen Phase eine starke Einflussmöglichkeit auf die Gestaltung von Gesetzen gewinnen.

Investitionsschutzabkommen
Investitionsschutzabkommen (Investor State Dispute Settlement Mechanism - ISDS) bieten Unternehmen, die Investitionen im Ausland getätigt haben, Schutz gegen Diskriminierung und unfaire Behandlung; Enteignung, die nicht öffentlichen Zwecken dient und nicht entschädigt wird; sowie Schutz gegen die Beschränkung von internationalem Kapitaltransfer (z.B. Repatriierung von Gewinnen). Im Unterschied zu Streitigkeiten zwischen heimischen Unternehmen und ihren nationalen Regierungen sind für Klagen im Rahmen von Investitionsschutzabkommen nicht nationale Gerichte, sondern ad-hoc eingerichtete internationale Schiedsgerichte zuständig, die nach internationalem Recht entscheiden. Es kommt also insofern zu einer Ungleichbehandlung von heimischen und ausländischen Investoren. Ziel von ISDS ist es, schwache nationale Rechtssysteme zu umgehen und damit ausländische Direktinvestitionen zu erhöhen.

Warum ist nun aber ein ISDS als Teil von TTIP geplant? Tatsächlich drängen sowohl die USA, als auch die EU-Kommission, ein solches in TTIP zu verankern. Außerdem unterstützen dieses Ansinnen einige EU-Mitgliedsstaaten, die bereits bilaterale Investitionsschutzabkommen mit den USA abgeschlossen haben, welche den US-Investoren sehr umfassende Rechte zubilligen und die diese gerne neu verhandeln würden (z.B.: Tschechien). Ein wichtiger Grund für die EU-Kommission ist, dass TTIP einen Standard für zukünftige Freihandelsabkommen mit Entwicklungsländern setzen soll, in denen Investitionsschutzabkommen wegen des schwachen lokalen Rechtssystems für EU-Unternehmen eine wichtige Rolle spielen.[9]

Die Kommission versichert, dass TTIP sehr ähnliche Garantien enthalten wird wie die bereits ausgehandelten Freihandelsabkommen der EU mit Kanada und Singapur, die Klagen von Investoren im Rahmen des ISDS die sich gegen legitime Regulierung richten explizit, ausschließen. [10] Dies würde garantieren, dass unsachliche und zu stark investorenfreundliche Entscheidungen der Schiedsgerichte, die legitime Politiken der Unterzeichnerstaaten unterminieren, verhindert werden. Nun stellt sich die Frage, ob ein potentielles Investitionsschutzabkommen den Investoren mehr Rechtssicherheit bietet als die nationalen Gerichte der EU-Mitgliedsstaaten bzw. der USA dies tun können. Während unbestritten ist, dass die „alten“ Mitgliedsstaaten der EU über zuverlässige Rechtssystem verfügen, gibt es manche „neue“ Mitgliedstaaten, in denen die Qualität der Gerichtsbarkeit sowie die Rechtssicherheit zu wünschen übrig lässt. Sicherlich steht Investoren in vielen Fällen der Gang zum Europäischen Gerichtshof offen, aber da dieser eine Ausschöpfung des nationalen Instanzenzuges voraussetzt, kann eine Durchsetzung von legitimen Ansprüchen sehr lange dauern. Diese Länder würden daher wahrscheinlich von einem ISDS profitieren, welches US-Investoren mehr Rechtssicherheit bieten würde. Gleichzeitig betonen Experten (z.B. Lord Goldsmith in seiner Aussage vor dem britischen House of Lords[11]), dass auch das US-amerikanische Rechtssystem auf Bundesstaatenebene aufgrund von Geschworenenentscheidungen in Zivilrechtssachen erratisch sein kann, wodurch auch Investitionen von EU-Unternehmen in den USA durch ein ISDS besser geschützt würden. Insgesamt ist meiner Meinung nach davon auszugehen, dass ein in TTIP integriertes ISDS positive aber geringe Auswirkungen auf die bilateralen Investitionen haben würde.

Das wohl gewichtigste Argument, ein Investitionsschutzabkommen in TTIP zu integrieren, ist jedoch die Vorbildwirkung für zukünftige Freihandelsabkommen mit Entwicklungsländern, die ein schwaches Rechtssystem besitzen. Dabei ist speziell das geplante Abkommen mit China zu erwähnen. Es ist fraglich, ob China ein umfassendes Investitionsschutzabkommen akzeptieren würde, wenn ein solches nicht auch in allen anderen bilateralen Freihandelsabkommen der EU enthalten ist. Aus diesem Grunde sollte ein ISDS Teil von TTIP sein.

   

Politische und geo-strategische Erwägungen
Während die direkten ökonomischen Effekte von TTIP auf die EU- und US-Volkswirtschaften unsicher sind, geht die strategische und politische Bedeutung von TTIP weit über die direkt ökonomische hinaus. Die EU und die USA sind zusammen für fast die Hälfte des Welthandels verantwortlich, und daher haben gemeinsame Entscheidungen dieser beiden Ökonomien wichtige Auswirkungen auf die gesamte Weltwirtschaft. Es sollte keinesfalls vergessen werden, dass TTIP die strategische Partnerschaft zu den USA stärken würde, die sich im Moment eher dem pazifischen Raum zuwenden: die Verhandlungen über das Trans Pacific Partnership (TPP), ein Freihandels- und Investitionsschutzabkommen zwischen den USA, Australien, Brunei, Kanada, Chile, Japan, Malaysia, Mexiko, Neuseeland, Peru, Singapur und Vietnam, sind bereits weiter fortgeschritten als jene über TTIP. Insbesondere ist TTIP eine großartige Gelegenheit, um neue internationale Standards zu schaffen, die einerseits im Interesse der EU sind und die gleichzeitig Vorbildwirkung für andere bilaterale und multilaterale Freihandels- und Investitionsabkommen haben können. Mit den USA verbindet die EU weit ähnlichere Interessen als mit den meisten anderen Ländern. So können durch TTIP hohe Standards für Produktsicherheit, Schutz von intellektuellem Eigentum, Investitionsschutz und vielleicht sogar Arbeitnehmerrechte festgelegt werden. Diese Standards sollen offen sein und wissenschaftlicher bzw. technischer best practice entsprechen, sodass sie langfristig auch von Drittstaaten akzeptiert werden bzw. in das WTO-Regelwerk einfließen können. Es ist gleichzeitig auch wichtig, TTIP für den zukünftigen Beitritt weiterer Staaten offen zu halten, wie dies beim Transpacific Partnership der Fall ist.

Ein weiterer für die EU wichtiger Faktor von TTIP ist der Sektor Energie. Hier sollte die EU versuchen, die USA dazu zu bewegen, Exportbeschränkungen von Schiefergas und Öl aufzuheben oder zumindest zu reduzieren. Dies wäre gleich aus zwei Gründen von Bedeutung: einerseits könnte damit die starke Abhängigkeit Europas von russischem Gas reduziert werden, welche sich in der Ukrainekrise als großer strategischer Schwachpunkt der EU erwiesen hat; andererseits wären EU-Unternehmen in energieintensiven Industrien nicht länger so stark gegenüber US-Unternehmen benachteiligt, da eine Aufhebung der US-Exportbeschränkungen zu einem Fall der Energiepreise in Europa (und zu einem Anstieg jener in den USA) führen würde.

Schließlich kann TTIP auch als Antriebsfaktor für die Doha-Runde der WTO dienen, indem es neue Fakten schafft und dadurch China und andere Schwellenländer dazu bringen könnte, mehr Zugeständnisse in Bereichen von Marktzugang, Schutz von intellektuellem Eigentum und Investitionsschutz zu machen bzw. höhere Standards für Produktsicherheit und eventuell auch für Arbeitnehmerrechte zu akzeptieren.

Zusammenfassend ist daher zu sagen, dass TTIP mehr Chancen als Risiken bietet und diese daher genutzt werden sollten. Überzogene Erwartungen sind allerdings nicht angebracht: TTIP ist nicht geeignet, um die EU aus der Wirtschaftskrise zu holen, da die meisten Effekte des Abkommens erst sehr langfristig eintreten würden. Gleichzeitig muss bei den Verhandlungen auch große Sorgfalt darauf verwendet werden, dass die hohen EU-Standards etwa im Bereich Lebensmittelsicherheit und Umwelt nicht stark verwässert werden. Schließlich ist darauf zu achten, Lobbyisten nicht zu viel Einfluss auf die Verhandlungen zu geben, etwa indem ihnen Einblick in Verhandlungs- und Entscheidungsprozesse gewährt wird, die die Öffentlichkeit nicht bekommt. Ob es schließlich gelingt, aus TTIP ein Instrument zu machen, um hohe Standards international zu verankern, oder – im Gegenteil – durch das Abkommen bestehende Standards im Interesse von Lobbys verwässert werden, wird wohl erst nach Abschluss der Verhandlungen klar sein. Dann obliegt es dem EU-Parlament, dem US-Kongress, sowie den nationalen Parlamenten der EU-Mitgliedsstaaten,[12] über das Gesamtpacket abzustimmen.

Über den Autor
Dr. Harald Fadinger ist Professor für Volkswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Industrie- und Handelsökonomik an der Universität Mannheim.


Fußnoten
[1] Joseph Francois, Miriam Manchin, Hanna Norberg, Olga Pindyuk, Patrick Tomberger, 2013, Reducing Transatlantic Barriers to Trade and Investment: An Economic Assessment.

[2] Zu diesem Ergebnis kommt auch die Studie von Francois. Eine bekannte Studie zum US-Kanada Freihandelsabkommen findet leicht positive Lohneffekte für Kanada (Daniel Trefler, 2004, The Long and Short of the Canada-U. S. Free Trade Agreement, American Economic Review, 94(4).

[3] Die höchsten EU-Zollbarrieren schützen die Sektoren Verarbeitete Lebensmittel (der EU-Importzollsatz liegt bei 14,6%), Fahrzeuge (8 %), sowie Land- und Forstwirtschaft (3.7 %). Die USA hat in keinem Sektor Zollsätze von mehr als 4 Prozent, die höchsten Zollbarrieren finden sich aber ebenfalls in den Sektoren Verarbeitete Lebensmittel (3.3 %), sowie Land- und Forstwirtschaft (3.7%).

[4] Die größten Exportsteigerungen von EU-Unternehmen in die USA wären in den Sektoren Landwirtschaft (+20 %), Verarbeitete Lebensmittel (+10 %), Fahrzeuge (+14 %), sowie Metallprodukte (+20 %) zu verzeichnen. In den USA würde gleichzeitig das Bruttoinlandsprodukt um 0.04 % steigen und die Gesamtexporte würden um 1.9 % zulegen. Die bilateralen Exporte in die EU würden um knapp 13 % steigen, wobei die stärksten Steigerungen in den Sektoren Landwirtschaft (+20%), Verarbeitete Lebensmittel (+40%) und Fahrzeuge (+40%) zu erwarten wären, was den Sektoren mit den höchsten gegenwärtigen EU-Außenzöllen entspricht.

[5] Die grundlegende Idee dieser neueren Forschung (Marc J. Melitz (2003), The Impact of Trade on Intra-Industry Reallocations and Aggregate Industry Productivity, Econometrica, 71,(6).) ist, dass der Abbau von Zollbarrieren den Wettbewerb zwischen Firmen innerhalb eines Sektors verstärkt und in Folge größere, produktivere Firmen auf Kosten weniger produktiver Unternehmen expandieren, da nur erstere die Fixkostenhürde des Exportierens überwinden können. Aufgrund dieses Umverteilungsmechanismus steigt die durchschnittliche Produktivität des Sektors, was jedoch in dem von Francois et al. verwendeten Modell vernachlässigt wird.

[6] Francois et al (2013) berechnen zoll-äquivalente Effekte von Produktstandardharmonisierung, indem sie qualitative Umfragen mithilfe statistischer Methoden zu quantifizieren versuchen.

[7] Keinen Eingang in das Modell finden auch neueste Erkenntnisse, dass Handelsliberalisierung einen wichtigen positiven Einfluss auf die Innovationsrate von Firmen und dadurch auf die Wachstumsrate der Ökonomie hat (Alla Lileeva & Daniel Trefler, 2010. "Improved Access to Foreign Markets Raises Plant-Level Productivity... for Some Plants," The Quarterly Journal of Economics,125(3).) Laut Trefler (2004) basieren bis zu 50 Prozent der Produktivitätssteigerungen im kanadischen Industriesektor, die auf das Kanada-USA Freihandelsabkommen zurückzuführen sind, auf verstärkter Innovationstätigkeit, während der Rest auf Schrumpfen von relativ unproduktiven und Expansion von produktiven Unternehmen basiert.

[8] Bekannt unter dem Namen Dodd-Frank Act.

[9] EU-Mitgliedstaaten haben bereits ca. 1400 bilaterale Investitionsschutzabkommen abgeschlossen und Unternehmen aus EU-Staaten sind große Nutznießer solcher Abkommen. Von den 214 bekannten Klagen in der Periode 2008-2012 wurden 53% der Klagen von EU Unternehmen eingebracht. 2012 wurden 60 % der Klagen von EU Investoren und nur 7.7% von US Investoren eingebracht (
http://ec.europa.eu/trade/policy/in-focus/ttip/documents-and-events/). Mit den Lissaboner Verträgen wurde der Abschluss von Investitionsschutzabkommen zur EU-Kompetenz.

[10] Insbesondere sollen in Fällen indirekter Enteignung, bei denen Unternehmen durch Änderungen öffentlicher Gesetzgebung (z.B.: strengere Umweltregulierung, die den Entzug einer Produktionslizenz zur Folge hat) Profite entgehen, keine Klagen nach dem ISDS möglich sein, sofern ein öffentliches Interesse in nicht-diskriminierender Weise verfolgt wird. Ein weiteres Problem bestehender ISDS ist, dass das Prinzip der „fairen und gerechten Behandlung“ im internationalen Recht nicht genau definiert ist. Um ungerechtfertigte Klagen aufgrund dieses Prinzips auszuschließen, sollen die Tatbestände, die diesem Prinzip widersprechen, im Vertragstext abschließend aufgelistet werden. Verbesserungen gegenüber bestehenden ISDS sollen – analog zum EU-Kanada Freihandelsabkommen – auch im prozeduralen Bereich eingeführt werden. Insbesondere handelt es sich dabei um: erstens, verstärkte Transparenz - Veröffentlichung relevanter Dokumente, öffentliche Anhörungen der Parteien und Eingaberechte für interessierte Dritte (z.B. NGOs); zweitens, volle Prozesskostenübernahme der unterlegen Partei, welche wenig aussichtsreiche Klagen verhindern soll; drittens, eine von den Vertragsparteien gemeinsam im Voraus vereinbarte Liste von Schiedsrichtern, die Interessenskonflikte der Schiedsrichter und Qualitätsmängel der Urteile vermeiden soll; schließlich, die Einführung von Berufungsmöglichkeiten gegen Urteile der Schiedsgerichte, gegen die normalerweise kein Instanzenzug offensteht.

[11]
http://www.parliament.uk/business/publications/research/briefing-papers/SN06688/the-transatlantic-trade-and-investment-partnership-ttip

[12] Die nationalen Parlamente müssen dem Abkommen zustimmen, sofern TTIP Themenbereich umfasst, welche in die geteilte oder alleinige Kompetenz der Mitgliedstaaten fallen, was bei einem „tiefen“ Freihandelsabkommen wohl der Fall wäre. Die Kommission hat den Europäischen Gerichtshof vor kurzem ersucht zu klären, ob bzw. welche Teile des EU-Singapur Freihandelsabkommen von den Mitgliedstaaten ratifiziert werden müssen. Das Urteil hierzu ist noch ausständig.

 

 

 

Allgemeine Informationen:
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