Wien (wifo) - "Das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell muss weiterentwickelt werden" forderte
die EU-Kommissarin Marianne Thyssen in ihrer Rede auf der heutigen Konferenz zum Thema "Sozialer und ökologischer
Fortschritt: Europa in einer langfristigen Perspektive" in Brüssel. Auf dieser Konferenz präsentierten
Forscher und Forscherinnen des von der EU im 7. Forschungsrahmenprogramm finanzierten Projektes WWWforEurope die
Ergebnisse ihrer Arbeit Vertreterinnen und Vertretern europäischer und internationaler Institutionen, der
europäischen Sozialpartner, der Wissenschaft und von NGOs. Der WIFO-Leiter und Koordinator dieses wegweisenden
Projektes Karl Aiginger fasste die Ergebnisse folgendermaßen zusammen: "Die einzige Chance für
Europa in einer globalisierten Welt liegt in der Verfolgung einer 'High-Road'-Strategie, basierend auf Qualität,
Innovation und Qualifikation."
"Der Endzweck von Wettbewerbsfähigkeit", so Aiginger weiter, "ist die Erreichung von Wohlfahrtszielen.
Internationale Wettbewerbsfähigkeit sollte nicht durch niedrigere Lohnkosten, Umwelt- oder Sozialstandards
- die Elemente einer 'Low-Road'-Strategie - angestrebt werden. In dieser Hinsicht werden Schwellenländer immer
wettbewerbsfähiger sein, und die Verfolgung dieser Strategie würde weg von den über das BIP hinausgehenden
Wohlfahrtszielen ("beyond GDP") führen. Der Beitrag des Projektes WWWforEurope in dieser Diskussion
ist die Definition von Instrumenten, die Umweltschutz und soziale Inklusion kompatibel mit wirtschaftlicher Dynamik
machen. Dazu zählen innovative Strategien zur Abkoppelung des Ressourcenverbrauches vom Wirtschaftswachstum,
eine Verbesserung der Ausbildung, der Einsatz aktivierender Maßnahmen auf dem Arbeitsmarkt und eine gut funktionierende
Verwaltung." Jeffrey Sachs (The Earth Institute) als Mitglied des wissenschaftlichen Beirates des Projektes
befürwortet diese Strategie: "Im Zeitalter nachhaltiger wirtschaftlicher Entwicklungen brauchen wir einen
ganzheitlichen Ansatz, der wirtschaftlichen Fortschritt, starke Sozialsysteme und ökologische Nachhaltigkeit
in sich vereint."
Rodger Liddle (Policy Network) und Atilim Seymen (Deutsche Bundesbank) diskutierten sozialpolitische Themen in
kurz- und langfristiger Perspektive. Liddles Kritik richtete sich vor allem auf das Versagen der wirtschaftlichen
Institutionen der EU bei der Unterschätzung der Risiken sozialer Ungleichheit für wirtschaftliche und
politische Entwicklungen. Eine vertiefte Integration bei Beachtung politischer Diversität wäre für
alle EU-Mitgliedsländer von Vorteil.
Atilim Seymen präsentierte seine Ideen zu notwendigen Arbeitsmarktreformen: Eine Analyse der deutschen Hartz-Reform
zeigte zwar positive Auswirkungen auf den dortigen Arbeitsmarkt, aufgrund von unterschiedlichen Systemen und Überlagerungseffekten
kann diese Reform jedoch nicht als Best-Practice-Modell für andere europäische Länder dienen. Allerdings
kann der Schluss daraus gezogen werden, dass die mit solchen Reformen einhergehenden Verteilungswirkungen schädliche
Auswirkungen auf den Ruf solcher Maßnahmen und deren Effektivität haben.
Jeroen van den Bergh (Universitat Autònoma de Barcelona), Marina Fischer-Kowalski (Institut für soziale
Ökologie) und Kurt Kratena (WIFO) präsentierten ihre Forschungsergebnisse im Rahmen eines Panels zum
Thema "Langfristiges Wirtschaftswachstum und Ressourcenentkopplung". Die langfristige Verknappung von
Energie und Rohstoffen erfordert eine vollständige Entkopplung ihres Einsatzes von der Wachstumsdynamik der
Wirtschaft. Jeroen van den Bergh nannte eine Reihe von Herausforderungen, von Rebound-Effekten bis hin zu sozialpolitischer
Durchführbarkeit. Marina Fischer-Kowalski zeigte, dass die Implementierung intelligenter Umweltabgaben und/oder
fiskalpolitischer Anreize eine in sozialer Hinsicht faire und ökologisch nachhaltige Entkopplung ermöglicht.
Georg Licht (ZEW Mannheim) und Reinhilde Veugelers (KU Leuven) präsentierten eine weitere Sichtweise dieser
Problematik in ihren Beiträgen zu "Innovation, Beschäftigung und Umwelt". Umweltinnovationen
tragen zur Emissionssenkung bei und/oder schaffen CO2-verringernde Technologien bei gleichzeitiger Verstärkung
des Wirtschaftswachstums und der Widerstandsfähigkeit gegen Krisen. Im Gegensatz zur herrschenden Meinung
müssen solche Umweltinnovationen keine Arbeitsplätze vernichten, sondern können sogar beschäftigungssteigernde
Wirkungen haben.
An einer hochrangigen politischen Podiumsdiskussion nahmen anlässlich der WWWforEurope-Konferenz Miguel Gil
Terte (Europäische Kommission), Janneke Plantenga (Universität Utrecht), André Sapir (Bruegel)
und Frank Vandenbroucke (KU Leuven und früherer belgischer Minister für Soziales, Gesundheit, Pensionen
und Beschäftigung) teil. Europa leidet immer noch an den Nachwirkungen der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise
der Jahre 2008/09. Dennoch drängt die Zeit, den Kurs in Richtung eines sozioökologischen Wandels zu setzen,
wie er auf Basis der Ergebnisse des Forschungsprojektes aufgezeigt wird. Grundlagen dafür sind eine verstärkte
europäische Integration und eine Reform der gemeinschaftlichen Institutionen. Der wachsenden Euro-Skepsis
sollte eine glaubwürdige Politik in Richtung eines "besseren" Europa und einer "High-Road"-Strategie
zum Nutzen aller Bürgerinnen und Bürger entgegengesetzt werden.
An dieser Veranstaltung nahmen Repräsentantinnen und Repräsentanten der Europäischen Kommission,
des Europäischen Wirtschafts- und Sozialkomitees (EESC) und der Europäischen Umweltagentur teil. Auch
Vertreterinnen und Vertreter einiger übereuropäischer internationaler Organisationen wie der Internationalen
Arbeitsorganisation (ILO) oder der OECD waren anwesend. Weitere Teilnehmerinnen und Teilnehmer von europäischen
Universitäten, den Think Tanks Bruegel, Wuppertal Institute und Club of Rome, der Sozialpartner einzelner
Mitgliedsländer und ihrer europäischen Dachorganisationen und von NGOs wie etwa Green Budget Europe oder
Friends of Europe folgten der Einladung zu diesem wichtigen Diskurs.
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