Neue wiiw-Prognose für Mittel-, Ost- und Südosteuropa, 2015-2017
Wien (wiiw) - Das Wachstum in den Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas (MOSOEL) wird dem wenig
beeindruckenden Muster im Euroraum folgen. Die längerfristige Annäherung der Einkommensniveaus in den
MOSOEL wird nicht so rasch erfolgen, wie noch vor rund einem Jahrzehnt erwartet wurde. Die wirtschaftliche Dynamik
für den Zeitraum 2015-2017 wird sich nicht wesentlich von jener des Jahres 2014 unterscheiden. Für die
neuen EU-Mitgliedstaaten wird das Wachstum in den nächsten Jahren voraussichtlich etwas unter 3% liegen. Dies
bedeutet ein durchschnittliches Wachstumsdifferential von etwa 1,5 Prozentpunkten gegenüber dem Euroraum -
rund die Hälfte des Werts vor dem Ausbruch der globalen Finanzkrise.
Andererseits werden die meisten Länder der Region voraussichtlich der Gefahr von galoppierender Inflation,
exzessiven Haushaltsdefiziten oder übermäßiger Auslandsverschuldung, unter denen sie in der Vergangenheit
litten, entgehen. Dies sind die wichtigsten Ergebnisse der neuen mittelfristigen MOSOEL-Prognose des Wiener Instituts
für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw).
Die geringe heimische Gesamtnachfrage war die Hauptursache für das schwache Wachstum. Dies zeigt sich an
der Desinflation (oder sogar milden deflationären Tendenzen) in großen Teilen der Region sowie an dem
Fortbestehen relativ hoher Arbeitslosigkeit. Es gibt Anzeichen einer Abwärtsspirale bei den Lohnabschlüssen.
Während Lohnzurückhaltung die Profitabilität und externe Wettbewerbsfähigkeit stärkt,
schwächt sie auch die verfügbaren Haushaltseinkommen und verlangsamt somit das Wachstum der Binnennachfrage.
Offenbar gibt es ein Trade-off zwischen einer Verbesserung der Handelsbilanz und einem rascheren Wachstum der Binnennachfrage.
Insgesamt wird das BIP-Wachstum "an der kurzen Leine" gehalten.
Der Anstieg der öffentlichen Investitionen könnte sich als Stütze des Wachstums erweisen, vor allem
in jenen neuen EU-Mitgliedstaaten (NMS), die Zugang zu EU-Geldern haben. Eine deutliche Erholung der Investitionen
im privaten Sektor steht jedoch noch aus. Geringe private Investitionen können aber nicht auf eine zu geringe
Profitabilität im Unternehmenssektor zurückgeführt werden. Im Gegenteil, der Unternehmenssektor
entwickelt sich sehr gut, zumindest in jenen NMS, für die relevante Daten verfügbar sind, und ist weiterhin
durch eine höhere Kreditvergabe als Kreditaufnahme gekennzeichnet. Obwohl sie derzeit reichlich Mittel zur
Verfügung hätten, ziehen es die Unternehmen vor, "ihre Wunden zu lecken", die durch frühere
übermäßige Kreditaufnahme entstanden sind, oder Mittel zu verleihen (in erster Linie an den öffentlichen
Sektor), anstatt produktiv zu investieren. Die Kreditvergabe an den privaten Sektor stagniert sogar dann, wenn
die Zinssätze relativ niedrig sind. Mit einigen wenigen Ausnahmen (vor allem an der Peripherie der Region)
stiegen die Bestände an Krediten an den nichtfinanziellen Unternehmenssektor 2014 nur marginal, wenn überhaupt.
Dies könnte damit zusammenhängen, dass die Firmen das Nachfragewachstum pessimistisch beurteilen, oder
eine gestiegene Liquiditätspräferenz widerspiegeln, oder auch die relativ reichlich vorhandenen Mittel,
die den Unternehmen zur Verfügung stehen. Notleidende Kredite hängen mit einem hohen Anteil von Kreditaufnahmen
in Fremdwährungen zusammen. Die jüngste Aufwertung des Schweizer Franken wird einige negative Auswirkungen
auf jene Firmen und Haushalte haben, die in der Vergangenheit in großem Umfang Kredite in dieser Währung
aufgenommen haben.
Neue Hinweise stützen die Annahme, dass Länder mit einem flexiblen Wechselkurs mittel- bis langfristig
besser abschneiden. Sie neigen tendenziell zur Vermeidung von irreversiblen Währungsüberbewertungen,
während Länder mit einem fixen Wechselkurs dies nicht ganz verhindern können. Dennoch gibt es Beispiele,
dass trotz der Rigidität der Wechselkurse eine Überbewertung vermieden werden kann - zumindest mittelfristig.
Alle MOSOEL verzeichnen steigende Haushaltsdefizite. Die Leistungsbilanzdefizite sind weiterhin niedrig. Die gesamtwirtschaftlichen
Nettoausleihungen in den NMS sind tendenziell positiv. Dies ist eine Folge davon, dass das aktuelle Sparvolumen
im Privatsektor in den NMS im Allgemeinen höher ist als die Investitionen in diesem Sektor.
Im Durchschnitt wird das Wirtschaftswachstum in den NMS 2015 einheitlicher ausfallen,
wenn auch nicht stärker steigen. Das Durchschnittswachstum wird 2015 2,7% ausmachen. Eine gewisse Beschleunigung
des Wachstums ist für die Periode 2016-2017 zu erwarten. Die Arbeitslosigkeit in den NMS wird nur allmählich
zurückgehen. Die Inflation wird 2015 niedrig bleiben, aber 2016 langsam auf ein normaleres Niveau zurückkehren.
Bei anhaltendem - wenn auch schwachem - Wachstum werden sich die Leistungsbilanzen verschlechtern (jedoch vergleichsweise
niedrig bleiben).
Auch in den (derzeitigen und potenziellen) EU-Beitrittsländern gibt es kaum Wachstumsbeschleunigung. Die Produktion
in diesen Ländern wird voraussichtlich nicht schneller als in den NMS wachsen. Die Türkei, Mazedonien
und Kosovo könnten etwas besser als der Rest der Gruppe abschneiden, mit Wachstumsraten von über 3% im
Jahr 2015. Allerdings scheinen diese Länder, mit Ausnahme der Türkei, die Periode hoher Inflation hinter
sich gelassen zu haben. Ihre Arbeitslosenzahlen sind jedoch weiterhin erschreckend hoch (nur in der Türkei
etwas geringer). Sie werden auch hohe (oder sogar sehr hohe) Leistungsbilanzdefizite einfahren.
Die Ergebnisse für die meisten Nachfolgestaaten der Sowjetunion werden 2015 ziemlich schlecht ausfallen. Die
Produktion in der Ukraine wird ihren freien Fall fortsetzen, da viele der Industriezentren des Landes zu Schlachtfeldern
geworden sind. Das Wirtschaftswachstum wird 2015 voraussichtlich um 5% sinken. Der Rückgang der Weltmarktpreise
für Energieträger wird sowohl Kasachstan als auch Russland negativ beeinflussen. Das russische Wirtschaftswachstum
wird 2015 um knapp 4% fallen. Ein ähnliches Schicksal droht Weißrussland, das stark von Exporten nach
Russland und in die Ukraine abhängig ist. Bei Annahme einer halbwegs friedlichen Lösung des Ukraine-Konflikts
kann allerdings davon ausgegangen werden, dass die Nachfolgestaaten 2016 oder 2017 wieder ein bescheidenes Wachstum
verzeichnen werden.
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