Messungen an der TU Wien zeigen: Eine Wolke aus Quantenteilchen kann mehrere Temperaturen gleichzeitig
haben. Das Experiment liefert wichtige Einblicke in das Verhalten großer Quantensysteme.
Wien (tu) - Temperatur ist eine sehr nützliche Größe. Sie ermöglicht uns eine einfache
statistische Aussage über die Energie eines hochkomplizierten Teilchengewirrs. Die Details des Systems muss
man dabei gar nicht genau kennen. An der TU Wien wurde nun in Zusammenarbeit mit der Universität Heidelberg
untersucht, auf welche Weise Quantenteilchen einen solchen statistisch beschreibbaren Zustand erreichen. Das überraschende
Ergebnis: Eine Wolke aus Atomen kann mehrere Temperaturen gleichzeitig annehmen. Damit ist ein wichtiger Baustein
zum Verständnis großer Quantensysteme und ihrer exotischer Eigenschaften gelungen. Die Resultate erschienen
nun im renommierten Wissenschaftsmagazin Science.
Systeme beschreiben, die für eine Beschreibung zu kompliziert sind
Die Luft um uns herum besteht aus unzähligen Molekülen, die ständig wild durcheinander fliegen.
Jeder Versuch alle diese Moleküle zu verfolgen und ihre Flugbahnen zu beschreiben ist von vornherein zum Scheitern
verurteilt. Doch für viele Anwendungen ist das auch gar nicht nötig. Man kann Eigenschaften finden, die
das gemeinsame Verhalten aller Moleküle statistisch beschreiben – etwa den Luftdruck oder die Temperatur,
die sich aus den Geschwindigkeiten der Moleküle ergibt. An einem heißen Sommertag bewegen sich die Luftmoleküle
mit ca. 430 Meter pro Sekunde im Mittel etwas schneller umher als an einem kalten Wintertag.
Diese statistische Betrachtungsweise (maßgeblich entwickelt vom Physiker Ludwig Boltzmann in Wien) ist außerordentlich
erfolgreich und beschreibt viele physikalische Vorgänge, vom kochenden Wassertopf bis zu Phasenübergängen
in Flüssigkristallen, die wir für Flachbildschirme verwenden. Trotz intensiver Anstrengungen gibt sie
aber immer noch Rätsel auf, vor allem, wenn es um Quantensysteme geht. Wie aus vielen quantenmechanischen
Einzelteilen die bekannten Gesetze der statistischen Physik (und damit letztlich auch unsere klassische Welt) hervorgehen,
ist eine der großen offenen Fragen der Physik.
Heiß und kalt zugleich
Am Atominstitut in Wien ist es nun in Kooperation mit der Universität Heidelberg gelungen, Vorgänge in
einem Quanten-Vielteilchensystem in Experimenten präzise zu beobachten, um die Ausbildung statistischer Eigenschaften
besser zu verstehen. Dazu fing das Team um Prof. Jörg Schmiedmayer Wolken aus wenigen tausend Atomen auf einem
speziellen Mikrochip ein und kühlte sie auf Temperaturen nahe am absoluten Nullpunkt von -273°C, bei denen
ihre Quanteneigenschaften hervortreten.
Dabei kam Erstaunliches zu Tage: Nach einer plötzlichen Änderung der äußeren Bedingungen am
Mikrochip strebt das Quantengas hin zu einem Gleichgewichtszustand, der durch ein statistisches Modell mit mehreren
Temperaturen beschrieben wird. Das Gas kann also heiß und kalt zugleich sein. Die Anzahl der Temperaturen
hängt davon ab, wie die Forscher die Gase manipulierten. "Mit unseren Mikrochips können wir diese
komplexen Quantensysteme sehr gut kontrollieren und ihr Verhalten untersuchen", sagt Tim Langen, der Leiter
der Studie. „Das ist besonders wichtig, da es bereits zuvor entsprechende theoretische Vermutungen gab, das vorhergesagte
Verhalten aber noch nie direkt beobachtet und kontrolliert erzeugt werden konnte“.
Durch die neuen Beobachtungen lassen sich die Gesetze der Quantenwelt besser mit der statistischen Beschreibung
vereinen. Dies ist für eine Vielzahl von Quantensystemen bedeutsam, in Zukunft möglicherweise auch für
eine technische Nutzung. Die Resultate öffnen einen neuen Blick darauf, wie aus der seltsamen Quantenwelt
unsere alltägliche Welt (mit ihren „klassischen“ Eigenschaften wie Temperatur) hervorgeht.
Originalpublikation: T. Langen et al.,
Experimental observation of a generalized Gibbs ensemble, erscheint in Science, frei zugängliche Version:
http://arxiv.org/abs/1411.7185
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