Beispiellose Vertreibung und Vernichtung jüdischer und anderweitig „missliebiger“ Kolleginnen
und Kollegen - „Der Wahrheit ins Auge sehen“
Wien (aekwien) - "Nicht nur die furchtbaren Ereignisse, an denen auch österreichische Ärztinnen
und Ärzte während des Nationalsozialismus als Täter beteiligt und als Opfer betroffen waren, sondern
auch deren zögernde Aufarbeitung danach haben die Medizin in unserem Land entscheidend geprägt."
Darauf wies der Präsident der Ärztekammer für Wien, Thomas Szekeres, im Rahmen der am 16.04. stattgefundenen
Konferenz "Austrian Physicians and National Socialism: "Historical Facts, Post-War Legacy, and Implications
for Today" im Van-Swieten-Saal der MedUni Wien hin.
1938 waren in Wien fast 5000 Ärztinnen und Ärzte tätig, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs
waren es gerade noch 450. "Das war die Folge einer beispiellosen Vertreibung und Vernichtung jüdischer
und anderweitig ‚missliebiger‘ Kolleginnen und Kollegen sowie natürlich auch am Schlachtfeld gefallener Kollegen",
betonte Szekeres.
Wie schwer sich die ärztliche Standesvertretung beziehungsweise die Ärzteschaft im Gesamten mit der Aufarbeitung
der NS-Zeit und damit auch mit der Pflicht, "der Wahrheit ins Auge zu sehen", getan hat - und vielleicht
auch noch tut -, zeigt das von Szekeres in seinem Vortrag vorgebrachte Beispiel der Kollegen Ernst Berger, Gerhard
Hochwarter, Hermann Pleiger, Ferdinand Sator, Franz Sellner und Werner Vogt, die am 14. Jänner 2014 das Goldene
Ehrenzeichen der Ärztekammer für Wien verliehen bekommen haben.
Allen sechs Personen gemeinsam ist, dass sie in der Vergangenheit mitgeholfen haben, Missstände beziehungsweise
Verfehlungen einzelner Ärzte, auch in der NS-Zeit, aufzudecken. Einige Jahre davor waren diese Kollegen noch
als "Aufrührer" und "Nestbeschmutzer" bezeichnet worden.
Am prominentesten ist wohl der Fall Heinrich Gross, der während der Zeit des Nationalsozialismus als Stationsarzt
an der Wiener "Euthanasie"-Klinik "Am Spiegelgrund" beschäftigt war. 1981 sah das Oberlandesgericht
Wien in einem von Gross angestrengten Verleumdungsprozess seine persönliche Beteiligung an der Kinder-"Euthanasie"
als gegeben an. Trotzdem genoss er - auch in Ärztekreisen - zeitlebens hohes Ansehen. Mit der entsprechenden
Distanz zu Gross tat sich die Ärztekammer stets sehr schwer.
Begründet wurde die späte Ehrung von Berger, Hochwarter, Pleiger, Sator, Sellner und Vogt damit, dass
sie schon sehr früh auf die "Affäre Gross" hingewiesen und - um die Vorwürfe gegen den
Ex-Kollegen publik zu machen - dafür auch ihre persönliche Existenz aufs Spiel gesetzt haben. "Man
hat also, und das vor noch nicht allzu langer Zeit, seine Existenz riskiert, wenn man die Verstrickung eines Arztes
in nationalsozialistische Gräueltaten und dessen Schuld öffentlich gemacht hat", so Szekeres.
Forschungsprojekt "Ärzte und Ärztinnen in Österreich 1938-1945"
Die Wiener Ärztekammer ist derzeit an einem Forschungsprojekt beteiligt, das der vertieften Erforschung
der Geschichte der in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgten österreichischen Ärzteschaft dient
- liegen doch einerseits überhaupt nur wenige Publikationen zu dieser Thematik vor, zum anderen lassen diese
viele Fragen noch unbearbeitet.
Bislang wurde durch die Forschung nicht einmal die konkrete rechtliche Grundlage der Entrechtung und Verfolgung
der als jüdisch definierten beziehungsweise politisch missliebigen Ärztinnen und Ärzte in Österreich
umfassend geklärt. Dementsprechend wird im Rahmen des Projekts "Ärzte und Ärztinnen in Österreich
1938-1945. Entrechtung, Vertreibung, Ermordung" untersucht, welche der zahlreichen reichsdeutschen Vorschriften
betreffend die Ärzte und Zahnärzte in Österreich eingeführt wurden. Dies betrifft insbesondere
die Regelungen hinsichtlich des Entzugs der Kassenzulassung, und dabei vor allem die Frage des Kreises der Betroffenen
in Österreich.
Die Untersuchung der Betroffenen und ihrer Schicksale umfasst erstmals ganz Österreich. Im Forschungsprojekt
werden alle Kolleginnen und Kollegen erfasst, denen die Approbation entzogen wurde, sei es aus "rassischen",
politischen oder sonstigen NS-spezifischen Gründen.
Die zentrale Zielsetzung des am Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien durchgeführten
Projekts ist die Publikation eines repräsentativen Gedenkbuches im Verlag der Ärztekammer für Wien
- voraussichtlich im Jahr 2017 - im Umfang von geplanten 800 Seiten.
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