Festrede von Bundespräsident Joachim Gauck

 

erstellt am
27. 04. 15
14.00 MEZ

Wien/Berlin (bundespraesident.de) - Ehrengast beim Festakt in der Wiener Hofburg: das deutsche Staatsoberhaupt zog Bilanz über die Befreiung Europas vom Nationalsozialismus sowie den darauffolgenden "beispiellosen Einigungsprozess". Lesen Sie hier seine Rede im Wortlaut:


Sehr geehrter Herr Bundespräsident!

Verehrte Festgäste!

Es ist für mich eine große Ehre, heute zu Ihnen zu sprechen. Nicht an irgendeinem Tag und zu irgendeinem Anlass, sondern gerade an jenem Tag, an dem Österreich vor genau 70 Jahren die Grundlagen für seine demokratische Nachkriegsordnung legte.

Noch tobten damals die Kämpfe um Breslau und Berlin. Noch befanden sich große Teile Österreichs in der Hand der Wehrmacht. Noch herrschte vielerorts der Terror der Nationalsozialisten: Zivilisten wurden erhängt oder erschossen, weil sie weiße Fahnen gehisst hatten. Soldaten wurden zum Tode verurteilt, weil sie sich von ihren Truppenteilen entfernt hatten. Doch die Hauptstadt Wien befand sich bereits in den Händen der Roten Armee. Und noch bevor die Wehrmacht kapitulierte, erklärte eine neue österreichische Regierung den gewaltsamen Anschluss an Deutschland 1938 für null und nichtig und proklamierte die Wiederherstellung der demokratischen Republik Österreich. Voller Erleichterung tanzten die Wiener zwischen den Trümmern ihrer Stadt zum Donauwalzer.

Die Bürger der Republik Österreich und die Bürger der Bundesrepublik Deutschland wissen sehr genau, warum wir das Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft als Befreiung würdigen.

Heute leben Österreicher und Deutsche in einem spannungsfreien und freundschaftlichen Verhältnis – von Fußballländerspielen einmal abgesehen. Wir sind einander willkommen – als Kellner und Fachärzte, als Wissenschaftler und Theaterdirektoren. Geschäftsleute und Touristen überqueren millionenfach die Grenze in beide Richtungen. Viele unserer Unternehmen sind miteinander verflochten, und unsere Länder sind füreinander ein wichtiger Markt.

Zu Recht ist es oftmals betont worden: Österreicher und Deutsche sind sich besonders vertraut – allein schon wegen der Sprache. Das Publikum fragt kaum mehr, ob ein Schriftsteller, Komponist oder Schauspieler in Deutschland oder Österreich geboren wurde und welche Staatsbürgerschaft er besitzt.

Unsere Völker verbindet eine jahrhundertelange gemeinsame Geschichte: dazu gehört das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, blutiger Krieg, um Schlesien etwa, ebenso wie der 1815 gemeinsam ins Leben gerufene Deutsche Bund. Und selbst in der Zeit der Nationalstaatsbildung fühlten wir uns einander so nahe, dass die Debatte über einen gemeinsamen Staat lange Jahre auf der politischen Agenda stand.

Wir wissen, wie die Geschichte ausging. 1871 entstand das Deutsche Reich – ohne Österreich. Die staatliche Vereinigung Deutschlands und Österreichs war auch nach dem Ende des Ersten Weltkriegs keine Option, weil die Siegermächte es so verfügten. Und als der Zusammenschluss 1938 Realität wurde, verspielte er im selben Moment jede Zukunftschance. Auch wenn Zehntausende auf den Straßen jubelten, als Adolf Hitler Österreich 1938 anschloss ans Deutsche Reich, so gab es zugleich die vielen anderen Österreicher, die in der nationalsozialistischen Herrschaft von Anfang an nichts als ein menschenverachtendes System der Unterdrückung sahen. Für sie war die Einheit mit Deutschland unter dem Vorzeichen der Diktatur keineswegs erstrebenswert, sondern erschreckend und bestürzend.

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gehen Deutschland und Österreich getrennte Wege – erst in kritischem Respekt, dann in wachsender freundschaftlicher Geneigtheit. Beide Staaten sind im Rückblick gut mit dieser Lösung gefahren. Mit dem Staatsvertrag von 1955, einem Meilenstein der zweiten Republik, wurde Österreich souverän und frei. Das ist nun schon 60 Jahre her. Längst bekennen sich die Österreicher ganz selbstverständlich zu ihrer Identität, voller Stolz auf dieses Land mit seiner wunderschönen Landschaft, seiner tiefverwurzelten Kultur, seiner politischen Stabilität und seinem sozialen Frieden.

In den Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs standen Österreich und Deutschland vielfach vor ähnlichen Herausforderungen. Zunächst strebten beide nach dem Ende der Besatzung und nach der Wiederherstellung der staatlichen Souveränität, was im Falle Deutschlands erheblich länger dauerte als in Österreich. Beide Länder hatten gewaltige Leistungen zu erbringen, um die vielen Flüchtlinge und Vertriebenen zu integrieren. Auch in Österreich standen zunächst der Wiederaufbau des Landes und die Mehrung des Wohlstands im Vordergrund. Dabei flüchteten viele Österreicher ebenso wie viele Westdeutsche vor den langen Schatten der Vergangenheit ins große Schweigen oder in die Traumwelt von Heimatfilmen und Schlagermusik.

Den Umgang mit der eigenen Vergangenheit mussten Deutsche wie Österreicher erst lernen. Sie, Herr Bundespräsident, gehörten 1962 zu den ersten, die in Österreich die fortdauernde Weitergabe von antisemitischem und neonazistischem Gedankengut unter dem Dach einer Hochschule anprangerten. In den 1980er Jahren drangen die Dispute aus der Alpenrepublik bis ins europäische Ausland und bis nach Amerika. Ich weiß zu schätzen, welche große Bedeutung den Worten von Franz Vranitzky zukam, der 1991 als erster Bundeskanzler im Nationalrat aussprach, was lange – für einige viel zu lange – tabuisiert worden war: <q>Wir bekennen uns zu allen Taten unserer Geschichte und zu den Taten aller Teile unseres Volkes, zu den guten wie zu den bösen. Und so, wie wir die guten für uns in Anspruch nehmen, haben wir uns für die bösen zu entschuldigen, bei den Überlebenden und bei den Nachkommen der Toten.</q>

Deutschland hat nach seinen eigenen Erfahrungen im Umgang mit nationalsozialistischer wie später auch mit kommunistischer Vergangenheit ähnliche Überzeugungen gewonnen wie Österreich: Wenn wir uns offen und unvoreingenommen der Vergangenheit nähern, kann Wissen an die Stelle des Schweigens treten. Wir achten die Erfahrungen eines jeden Einzelnen. Gewiss: Wir sind nationale Narrative gewohnt. Aber wir können durchaus die eigenen Sichtweisen um die Sichtweisen von Anderen erweitern, und wir können auch unsere bisherigen Sichtweisen verändern: Das beste Korrektiv gegenüber einem Denken, das sich primär am Nationalen orientiert, ist die Orientierung an universellen Werten, an den Menschenrechten und an der Menschenwürde.

Lassen Sie mich noch einen Blick auf die letzten Jahrzehnte werfen. In einem beispiellosen Einigungsprozess ist es gelungen, die Staaten, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg verfeindet und misstrauisch gegenüber standen, auf der Grundlage der Prinzipien von Frieden, Freiheit und Menschenrechten zusammenzuführen. Es war ein Einigungsprozess, der zunächst im Westen des Kontinents, Jahrzehnte später auch in der Mitte und im Osten stattfand. Den Europäern ist es fast überall auf unserem Kontinent gelungen, den Dialog an die Stelle der Feindschaft, und das Miteinander der Verschiedenen an die Stelle eines Wettkampfs um Vorherrschaft und Macht zu setzen. Europa ist damit zum Modell für viele demokratische und freiheitsliebende Menschen auf der ganzen Welt geworden.

An dieser Stelle liegt es nahe, einen weiteren Jahrestag ins Gedächtnis zu rufen: Vor fast genau zwanzig Jahren, am 1. Januar 1995, wurde Österreich Mitglied der Europäischen Union. Sich militärisch zur Neutralität verpflichtend, ist Österreich politisch doch immer Teil jener Völkerfamilie gewesen, die sich der Freiheit des Einzelnen und des Rechts auf nationale Selbstbestimmung verschrieben hat. Gerade Österreich, das kommunistischen Ländern Nachbar war, wurde ein wichtiger Ort der Sehnsucht und der Zuflucht für Verfolgte aus Mittel- und Osteuropa.

Die besondere Anteilnahme der Österreicher am Schicksal der Menschen jenseits des Eisernen Vorhangs verdient großen Respekt. Während des Aufstands 1956 standen sie an der Seite der freiheitsliebenden Ungarn. 1968 hofften und bangten sie mit den Tschechen und Slowaken während des Prager Frühlings. Flüchtlingen aus beiden Ländern begegneten sie mit viel Sympathie und Hilfsbereitschaft. Und im Frühsommer 1989 war Österreich gerne bereit, tausenden von <abbr title="Deutsche Demokratische Republik">DDR</abbr>-Bürgern ein erstes Obdach zu bieten, als sich die Chance zur Flucht bot, weil Ungarn schon den Schießbefehl abgeschafft hatte.

Nachbarschaftliche und kulturelle Bande konnten erneuert werden, als Europa nach 1989 wieder eins wurde und Österreich den Antrag auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union stellte. Die Wirtschaft profitierte von der Einigung – und mit ihr die Menschen. Und doch haben sich die Hoffnungen auf eine immer engere Zusammenarbeit nicht überall erfüllt. In einigen Ländern Europas, auch innerhalb der Europäischen Union, sehen wir Gefahren für Rechtsstaat und Pluralismus, in anderen das Anwachsen populistischer und nationalistischer Strömungen und Parteien. Sogar ein so großer und wichtiger Partner wie Großbritannien hat Schwierigkeiten, seine Mitgliedschaft in der <abbr title="Europäische Union">EU</abbr> dauerhaft zu bejahen. Dazu kommt noch die Gefahr, die islamistische Terrororganisationen innerhalb Europas darstellen. Angesichts all dieser Herausforderungen gewinnt die gemeinsame Verteidigung und Festigung von Einheit, Freiheit und Demokratie in Europa eine neue, eine große Bedeutung.

Deshalb erscheint mir ein abgestimmtes, ja gemeinsames Vorgehen der Europäischen Union in der Außenpolitik bedeutsam zu sein. Wenn keine Garantie mehr besteht, dass überall in Europa das Völkerrecht geachtet wird, dann haben die Mitglieder der Europäischen Union neu über die gemeinsame Sicherheit nachzudenken.

Unsere beiden Staaten haben je eigene Erfahrungen gemacht mit den Möglichkeiten und den Grenzen der Politik in den Zeiten des Kalten Krieges: Konkurrenz und Konfrontation zwischen den beiden Machtblöcken bargen immer die Gefahr eines <q>heißen</q> Krieges. Trotz mancher Enttäuschung setzen wir deshalb heute auf Deeskalation und Gespräch.

Zugleich wissen wir: Es war 1975 die Helsinki-Schlussakte und das Bekenntnis zu unveräußerlichen Menschenrechten und Grundfreiheiten, das der mitteleuropäischen Freiheitsbewegung Inspiration und Ermutigung bot. Es war der erklärte Wille der Menschen, unabhängig und selbstbestimmt, in Freiheit und in Demokratie zu leben. Was vor einem Vierteljahrhundert bei Polen, Ungarn und Tschechen unsere ungeteilte Unterstützung fand, kann uns deshalb heute in der Ukraine nicht gleichgültig lassen.

Heute wie damals besteht Europa auf dem Respekt vor der Souveränität und territorialen Integrität eines jeden Landes und auf dessen Recht, seine Partner frei wählen zu dürfen. Heute wie damals weiß Europa, dass nichts den Wohlstand und das friedliche Zusammenleben besser sichert als die Menschen- und Bürgerrechte in einem funktionierenden Rechtsstaat.

Ich freue mich, dass ich an diesem Tag bei Ihnen sein kann. Und ich freue mich vor allem deshalb, weil unsere beiden voneinander getrennten Staaten noch mehr verbindet als eine gemeinsame Sprache. Es ist unser gemeinsames Wertefundament und es sind gemeinsame Ideale. Sie verbinden unsere Länder als gleichberechtigte Partner in der großen Familie der Europäischen Union. Und noch etwas verbindet uns: Österreich und Deutschland haben heute die gemeinsame Verantwortung, die Ordnung und die Werte auf denen sie beruht, in der Zukunft zu sichern. Es ist der Geist der europäischen Zusammenarbeit, der unsere Länder auch künftig einen wird. Der 70. Jahrestag der Wiedererrichtung der demokratischen Republik Österreich ist ein guter Anlass, sich darüber zu freuen und gemeinsam erneut JA zu sagen zu dieser Verantwortung.

 

 

 

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