Wien (hofburg) - "Ich bin mir völlig sicher, dass uns die sieben Jahrzehnte seit 1945 gelehrt und
bestätigt haben, dass die Demokratie die beste und menschenwürdigste Lebens- und Regierungsform ist",
sagte Bundespräsident Heinz Fischer anläßlich des Staatsakts zu "70 Jahre Republiksgründung"
am 27.04. in der Wiener Hofburg unter Beisein seines deutschen Amtskollegen Joachim Gauck. Lesen Sie hier die gesamt
Rede im Wortlaut:
Sehr geehrter Herr Bundespräsident der Republik Deutschland!
Meine hochgeschätzten Damen und Herren!
Wir feiern heute den 70. Geburtstag unserer Zweiten Republik und damit die Wiederherstellung eines selbständigen
und demokratischen Österreich im April 1945. Wie dramatisch die Ereignisse damals waren, hat der Film von
Hugo Portisch gezeigt, den wir so eben gesehen haben und für den wir Hugo Portisch und dem ORF sehr herzlich
danken.
Vom März 1938 bis April 1945 war Österreich von der Landkarte gelöscht. Es waren Jahre einer unmenschlichen
Diktatur, eines entsetzlichen Krieges und des unfassbaren Holocaust.
Aber es gab eine Wiedergeburt, als sich dieser Krieg dem Ende zuneigte, und die Diktatur des Nationalsozialismus
zerschlagen wurde: Am 27. April 1945 wurde mit der Unabhängigkeitserklärung die Republik Österreich
als selbstständiger demokratischer Staat wiedererrichtet.
Diesem Tag des Neubeginns ist die heutige Feierstunde gewidmet.
Eine Feierstunde, an der zum ersten Mal auch das Staatsoberhaupt eines Nachbarlandes, nämlich der deutsche
Bundespräsident Joachim Gauck teilnimmt, den ich hiermit besonders herzlich begrüße.
Ich empfinde es als einen besonderen Moment, dass wir diesen Geburtstag der Zweiten Republik gemeinsam mit dem
höchsten Repräsentanten jenes Landes begehen, mit dessen Geschichte wir in vielfältiger Weise so
eng – zeitweise auch verhängnisvoll – verbunden waren, während wir heute mit neuem Selbstverständnis
gemeinsam an einer friedlichen europäischen Zukunft arbeiten.
Ich begrüße mit großer Freude die Mitglieder der Österreichischen Bundesregierung mit Bundeskanzler
Faymann und Vizekanzler Mitterlehner an der Spitze, deren Parteien, nämlich SPÖ und ÖVP, in diesen
Tagen ebenfalls den 70. Jahrestag eines Neubeginns gefeiert haben.
Ich begrüße die Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaften mit den Präsidentinnen von Nationalrat
und Bundesrat an der Spitze.
Ich heiße die Vertreter der Religionsgemeinschaften mit Kardinal Schönborn an der Spitze willkommen,
und ich freue mich, dass zahlreiche verdiente Persönlichkeiten, die die Entwicklung unseres Landes in den
vergangenen Jahrzehnten mitgestaltet haben, hier anwesend sind.
Ich begrüße die Landeshauptleute, sowie weitere Vertreter der Bundesländer und der Gemeinden, die
Mitglieder des Diplomatischen Corps, Vertreter des österreichischen Bundesheeres sowie alle weiteren Gäste
aus dem In- und Ausland.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Im Schuljahr 1944/1945 besuchte ich gerade die erste Klasse der Volksschule; zunächst in Pamhagen im Burgenland
und dann in der kleinen Gemeinde Loich an der Pielach, wo meine Mutter mit meiner Schwester und mir bei einer Bäuerin
ein Quartier fand, als die Kampfhandlungen gegen Ende des Krieges immer bedrohlicher zunächst an die burgenländische
Grenze und bald darauf an Wien heranrückten. Von den konkreten Ereignissen in Wien hatten wir damals wenig
Ahnung, aber eines hat sich mir als Kind tief eingeprägt: dass Krieg etwas ganz Entsetzliches ist, und dass
Unrecht und Gewalt Zwillinge sind.
Am Freitag, dem 27. April 1945, an einem Tag, an dem in Teilen Österreichs noch gekämpft und in den Konzentrationslagern
aber auch an vielen anderen Orten noch tausendfach (!) gemordet wurde, fand im Wiener Rathaus die von den Sowjets
genehmigte konstituierende Sitzung einer Provisorischen Staatsregierung statt. An dieser waren SPÖ, ÖVP
und KPÖ beteiligt. Provisorischer Staatskanzler war Karl Renner, dem drei Persönlichkeiten als Vertreter
ihrer Gesinnungsgemeinschaften in einem Staatsrat zur Seite standen – und zwar: Dr. Adolf Schärf für
die SPÖ, Ing. Leopold Figl für die ÖVP, und Johann Koplenig für die KPÖ.
Diese Provisorische Staatsregierung hat die schon erwähnte Proklamation über die Wiedererrichtung der
demokratischen Republik Österreich erlassen, deren Original übrigens – wie mir Historiker versichern
– unauffindbar ist.
In dieser Proklamation wurde der Anschluss an Hitlerdeutschland vom März 1938 „als null und nichtig“ erklärt
und Österreich als selbstständiger Staat wiederhergestellt. Dass der sowjetische Marschall Tolbuchin
einige Tage vorher, am 15. April 1945, im Namen der Sowjetunion eine Erklärung veröffentlicht hatte,
in der es wörtlich hieß: „Die Rote Armee wird dazu beitragen, dass in Österreich die Zustände
wieder hergestellt werden, die bis zum Jahre 1938 in Österreich bestanden haben“, hat bei der Sozialdemokratie
– wie Adolf Schärf berichtete – zunächst eine Schrecksekunde Schockzustand ausgelöst. Aber das Missverständnis
konnte relativ rasch und einvernehmlich bereinigt werden.
In Wien konnte Ende April 1945 bereits gefeiert werden, aber erst am 8. Mai erfolgte die bedingungslose Kapitulation
des nationalsozialistischen Deutschland und damit das Ende des Krieges in Europa.
Mit dem Ende von Krieg und Diktatur und der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April war der Grundstein
zur Errichtung unserer Zweiten Republik gelegt.
Aber noch nicht einmal der Baugrund war klar abgegrenzt und voll benutzbar. Österreich war von vier Alliierten
Armeen besetzt, die Grenze zu Jugoslawien zunächst umstritten. Zahlreiche Städte oder Stadtteile lagen
in Schutt und Trümmern, die Infrastruktur war weitgehend zerstört und auf österreichischem Boden
gab es zu dieser Zeit mehr als eine Million (!) Flüchtlinge und Heimatvertriebene.
In Wien wusste man wenig über die Situation im Westen von Österreich und im Westen wusste man wenig über
die Situation in Wien.
Noch weniger wusste man in Österreich darüber, was man in Washington, Moskau, London oder Paris über
das künftige Schicksal Österreichs dachte und plante.
Trotz allem machte die Beseitigung der Kriegsschäden unglaubliche Fortschritte. Und auch der für die
Zukunft entscheidende politische Wiederaufbau war höchst erfolgreich.
Die vier Alliierten haben nach den Länderkonferenzen vom Herbst 1945 und nach der Einbeziehung von Vertretern
der westlichen und südlichen Bundesländer in die provisorische Staatsregierung diese anerkannt und schon
im November 1945 gab es die ersten freien, demokratischen, gesamtösterreichischen Wahlen seit 1930.
Das Resultat dieser Wahlen, bei denen es einen Frauenanteil von ca. 65 % gab, war sensationell:
Von den damals 165 Mandaten erhielt die ÖVP 85, die SPÖ 76 und die KPÖ nur 4 Mandate. Damit war
einer Machtübernahme der Kommunisten jede legale Basis entzogen.
Leopold Figl wurde Bundeskanzler einer Dreiparteienkoalition, in der die Kommunisten nur ein Ministerium leiteten.
Karl Renner wurde von der Bundesversammlung zum Bundespräsidenten gewählt.
Mit dem Rücktritt des kommunistischen Regierungsmitgliedes im Jahr 1947 begann die Koalition der beiden großen
Parteien zu einer in der Zweiten Republik häufig praktizierten Regierungsform zu werden. Dieser Koalition
lag und liegt der Gedanke zugrunde, man müsse aus Fehlern und Fehlentwicklungen der Ersten Republik lernen
und Gemeinsamkeiten in den Vordergrund rücken. Dieser Gedanke hat auch zur Bildung eines überparteilichen
Gewerkschaftsbundes und zur schrittweisen Entwicklung der Sozialpartnerschaft geführt.
Meine Damen und Herren!
Die politische und materielle Entwicklung der sieben Jahrzehnte seit 1945 kann insgesamt zweifellos als Erfolgsgeschichte
bezeichnet werden. Es war ein weiter, schwieriger Weg, der nicht frei von Fehlern und Versäumnissen geblieben
ist, die man im Rückblick auch leichter als solche erkennen kann und einbekennen soll.
Besonders erwähnt soll der Umgang mit der NS-Vergangenheit und mit Opfern der NS-Zeit werden, wobei aber auch
der konkrete, zeitgeschichtliche Rahmen Beachtung finden muss.
Schon als Hitler nach einem unverschämten Ultimatum nur wenige Stunden später die Deutsche Wehrmacht
am 12. März 1938 in Österreich einmarschieren ließ, und diese auf ihrem Marsch nach Wien und auch
in Wien begeistert bejubelt wurde, entstanden zwei Betrachtungsweisen.
Die einen sagten, Österreich - und daher auch die Österreicherinnen und Österreicher – seien das
erste Opfer Hitlers gewesen. Die Kurzfassung dieser weit verbreiteten Ansicht lautete: Das Übel des Nationalsozialismus
kam von außen, die Befehle kamen von oben, und wir waren die Opfer.
Die anderen erinnerten daran, dass Hitler in Österreich mit größtem Jubel empfangen worden war,
dass die Hakenkreuzfahnen an vielen Häusern schon angebracht wurden, bevor der erste deutsche Soldat österreichischen
Boden betreten hatte und die Österreicherinnen und Österreicher daher an der weiteren Entwicklung, einschließlich
der Verbrechen und Kriegsverbrechen, ihren entsprechenden Anteil an Schuld und Verantwortung zu tragen haben.
Die Wahrheit – zu deren klarer und unzweideutiger Formulierung Österreich allerdings lange gebraucht hat –
lautet wohl: Viele Österreicherinnen und Österreicher waren ohne Zweifel Gegner und auch Opfer des NS-Systems,
doch ein deprimierend großer Teil waren Sympathisanten, Unterstützer und auch rücksichtslose Täter.
Dazu kommt, dass bewusstes Wegschauen, Gedankenlosigkeit oder Opportunismus es dem herrschenden Regime erleichtert
haben, seine Ziele zu verfolgen und zu erreichen.
Das Wissen um diese Wahrheit ist es, das uns zu dem Grundsatz „Wehret den Anfängen“ verpflichtet, meine sehr
geehrten Damen und Herren!
Es war aber im Jahr 1945 und auch in den anschließenden Jahren offenbar sehr schwer, aus dieser Wahrheit
konkrete Gerechtigkeit für eine riesige Zahl von Einzelfällen zu schaffen – und zwar sowohl was die Täter,
als auch was die Opfer betrifft. In manchen Fällen vielleicht auch deshalb, weil – wie Solscheniziyn so richtig
schreibt – die Trennlinie zwischen Gut und Böse nicht nur zwischen einzelnen Menschen verläuft, sondern
häufig mitten durch das Herz ein und derselben Person.
Eines hätte jedoch von allem Anfang an klar sein müssen: Dass die neu gegründete Republik nicht
nur die Pflicht hat, Kriegsverbrechen und andere Verbrechen zu verfolgen, sondern dass sie auch Verantwortung und
Pflichten gegenüber jenen hat, die schweres Unrecht erlitten haben.
Zu diesen Pflichten hätte z.B. gehört, jenen Österreicherinnen und Österreicher, die von den
Nationalsozialisten vertrieben und zur Emigration gezwungen wurden, nach dem Krieg die österreichische Staatsbürgerschaft
automatisch zurückzugeben oder zumindest anzubieten. Dass dies nicht geschehen ist, war ein großes Unrecht,
das vielen sehr wehgetan hat und erst sehr spät - und in vielen Fällen zu spät - erkannt wurde.
Aber letzten Endes ist es erkannt worden, was die Gesetzgebung der letzten zwei Jahrzehnte beweist, was die Errichtung
des Nationalfonds für die Opfer des Nationalsozialismus oder die Entschädigung von Zwangsarbeitern beweist,
sowie – wenn auch erst im vergangenen Jahr – die Errichtung eines Denkmals für die Opfer der NS-Militärjustiz.
Sehr geehrte Damen und Herren!
In den 70 Jahren seit der Gründung der Zweiten Republik konnten auch andere, zunächst sehr umstrittene
Grundsatzfragen geklärt werden.
Hat es nicht lange Zeit Streit über die Frage gegeben, ob Österreich 1945 tatsächlich befreit wurde,
oder ob es nicht eher aus der Unfreiheit in Großdeutschland in die Unfreiheit durch die Besatzungsmächte
geraten ist?
Die klare Antwort lautet wie folgt:
Österreich ist 1945 von einer unmenschlichen verbrecherischen Diktatur befreit worden.
Die Alliierte Besatzung war zwar eine schwere, drückende Last mit Übergriffen, Menschenrechtsverletzungen
und Willkürakten. Aber sie hat den Wiederaufbau Österreichs als demokratisches Land mit europäischen
Werten nicht verhindert und damit den Weg von der Befreiung im Jahr 1945 zur vollen Freiheit im Staatsvertragsjahr
1955 ermöglicht.
Unbestritten und anerkennenswert sind auch die gewaltigen menschlichen und materiellen Opfer, die von den Alliierten
und insbesondere auch von der Sowjetunion während des Zweiten Weltkrieges zur Abwehr des Angriffskrieges von
Hitler und ganz speziell auch zur Befreiung Wiens und anderer Teile Österreichs erbracht wurden.
Allein im Kampf um Wien sind mehr als 18.000 Sowjetsoldaten gefallen. Ich werde daher am 8. Mai – dem 70. Jahrestag
des Kriegsendes – bei den sowjetischen Kriegsgräbern am Wiener Zentralfriedhof mit Militärischen Ehren
einen Kranz niederlegen, um diese Opfer zu würdigen und in sichtbarer Weise zum Ausdruck bringen, dass sie
unvergessen sind.
Dass diese offizielle und feierliche Ehrung in Wien erfolgt und nicht im Rahmen einer Militärparade in Moskau,
ändert nichts an unserer Dankbarkeit und am eindeutigen Inhalt dieser symbolischen Handlung.
Meine Damen und Herren!
Ich bin mir völlig sicher, dass uns die sieben Jahrzehnte seit 1945 gelehrt und bestätigt haben, dass
die Demokratie die beste und menschenwürdigste Lebens- und Regierungsform ist.
Sie mag Schwächen haben, ärgerliche Schwächen und Unzukömmlichkeiten, aber selbst eine Demokratie
mit vielen Schwächen ist bekanntlich besser als die beste aller Diktaturen, wobei es für mich keine gute
und erst recht keine beste Diktatur gibt.
Die Demokratie steht wiederum in engem Zusammenhang mit der Erkenntnis von der unveräußerlichen und
unverletzbaren Individualität jedes einzelnen Menschen und seiner Menschenwürde.
Daher dürfen wir nicht nachlassen, zum Schutz der Menschenwürde an gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
zu arbeiten, die die Schwächsten in der Gesellschaft schützen, das Prinzip der Gleichwertigkeit aller
Menschen mit Leben erfüllen und auf eine faire Verteilung der Lebens- und Entwicklungschancen hinarbeiten.
Diese Begriffe, nämlich Menschenwürde und Lebenschancen, kann man in diesen Tagen nicht aussprechen,
ohne das Schicksal von Tausenden Männern, Frauen und Kindern im Kopf zu haben, die beim Versuch, als Flüchtlinge
das Mittelmeer zu überqueren, ihr Leben aufs Spiel setzen und in allzu vielen Fällen auch verlieren.
Der Bericht eines österreichischen Fernsehjournalisten über eine Frau, die beim Kentern eines Flüchtlingsbootes
mit ihren vier kleinen Kindern ins kalte Wasser gestürzt ist, sich zunächst an einem Rettungsring noch
festhalten konnte, aber dann zusehen musste, wie eines nach dem anderen ihrer kleinen Kinder im kalten Wasser versunken
und ertrunken ist, ist durch Mark und Bein gegangen.
Ich bin sicher, dass man noch in Jahrzehnten von diesen Flüchtlingskatastrophen, aber auch von der Art wie
wir darauf reagiert haben, sprechen wird – so wie auch heute noch über den Umgang mit Flüchtlingen in
der Nachkriegszeit gesprochen, diskutiert und geurteilt wird.
Das heißt, wir müssen uns dem Urteil der Geschichte stellen.
Meine Damen und Herren!
Zu den wichtigsten Konsequenzen aus der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges zählen einerseits die Gründung
der Vereinten Nationen als Instrument zur Erhaltung des Weltfriedens, dann die universale Menschenrechtsdeklaration
und – in Europa – die Bereitschaft zum schrittweisen Aufbau europäischer Zusammenarbeit, die inzwischen bis
zu einer Europäischen Union mit 28 Mitgliedstaaten angewachsen und gediehen ist.
Politische und ökonomische Rückschläge der letzten Jahre dürfen uns nicht entmutigen. Unsere
Probleme sind lösbar. Denn das Gemeinsame hat mehr Substanz und Gewicht als das Trennende.
Gerade der Blick auf die letzten 70 Jahre in Österreich und Europa schafft Zuversicht, weil er zeigt, was
alles möglich ist, wenn gemeinsamer Wille und gemeinsame Ziele vorhanden sind.
In diesem Sinne danke ich nochmals den Pionieren und Baumeistern unserer Zweiten Republik. Ich danke aber auch
all jenen, die bei der Vorbereitung und Durchführung dieses Staatsaktes geholfen haben. Ich danke dem Quartett
des Radio Symphonie Orchesters für seine Mitwirkung. Ich danke Ihnen alle für Ihre Teilnahme und wünsche
der Republik Österreich eine gute Zukunft in einem friedlichen Europa!
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