EU-Auszeichnung für Spitzenforschung
Brüssel/Linz (jku) - JKU-Professor Gerhard Widmer wurde dieser Tage vom European Research Council (Europäischer
Forschungsrat, ERC) mit einem mit mehr als 2.3 Millionen Euro dotierten "ERC Advanced Grant" ausgezeichnet.
Die JKU verfügt nun über bereits 5 ERC-Grants, welche die bedeutendste Förderung der EU für
Grundlagenforschung sind. Prof. Widmers Forschungsprojekt "Getting at the Heart of Things: Towards Expressivity-aware
Computer Systems in Music" ("Con Espressione") verfolgt das revolutionäre Ziel, Computern beizubringen,
den musikalischen Ausdruck bzw. die Essenz von Musik zu erkennen und selbständig anzuwenden.
Prof. Widmer ist Leiter des Instituts für Computational Perception (Computerwahrnehmung) an der Johannes Kepler
Universität (JKU) Linz und Leiter einer Forschungsgruppe am Österreichischen Forschungsinstitut für
Artificial Intelligence (OFAI) in Wien. Er wurde bereits mit den beiden wichtigsten österreichischen Wissenschaftspreisen
ausgezeichnet (Wittgenstein-Preis 2009, START-Preis 1998) und zählt zu den international renommiertesten
Computerwissenschaftlern Österreichs. Prof. Widmer ist nicht nur einer der Pioniere in der Welt der Grundlagenforschung
im Schnittbereich zwischen Computern, künstlicher Intelligenz und Musik, sondern kann gleichzeitig mit seinen
Forschungsteams auch viele kommerzielle Anwendungen (und Patente) in der Musik- und Audioindustrie vorweisen.
"Ich gratuliere Prof. Widmer und seinem Team sehr herzlich zur Erlangung des ERC Advanced Grants. Es ist
dies der 5. ERC-Grant für die JKU und der erste in der Informatik. Mit dieser Förderzusage wird zugleich
die hohe Qualität der Informatik an der JKU bestätigt und die internationale Sichtbarkeit unserer Forschungsleistungen
gesteigert", freut sich JKU-Rektor Richard Hagelauer.
Computer sollen Musik in menschlichen Dimensionen erfassen können
Was sind nun die Ziele seines Forschungsprojekts: "Wir wollen in vollkommen neue Dimensionen vordringen,
was das ‚Verständnis' von Computern für menschliche Aspekte in der Kommunikation betrifft, und zwar konkret
anhand der (Klassischen) Musik. Können wir Maschinen beibringen, die wirkliche ‚Essenz' von Musik zu erkennen,
den musikalischen ‚Ausdruck', das, was eine Musikaufnahme für Menschen z.B. fröhlich oder lebendig oder
schwer oder tragisch macht? Warum berührt uns eine Aufnahme, oder lässt uns kalt? Wie funktioniert die
Kommunikation von expressiven und emotionalen Qualitäten in der Musik? Kann ein Computer lernen zu hören,
wie menschliche Zuhörer die Musik erleben oder kategorisieren würden? Und können Computer lernen,
Musik auch selbst mit Expressivität zu spielen, einem Stück einen bestimmten Charakter zu verleihen?",
erklärt Prof. Widmer
Damit könnten in Zukunft ganz neue Anwendungen in der Musikwelt möglich werden, etwa Suchmaschinen, die
Musik nach ihrem expressiven Gehalt suchen und einschätzen (z.B. "Finde mir eine dramatischere Interpretation
dieses Liedes"); Computer, die Musik atmosphärisch an bestimmte Situationen anpassen (z.B. in der Medienproduktion
und in der Spieleindustrie); oder musikalische Begleiter, die mit Musikern gemeinsam spielen und auf deren Spiel
richtig eingehen (z.B. für die automatische Begleitung von Solisten beim Üben).
"Jenseits von praktisch relevanten Technologien werden wir aber vor allem auch eine Menge über Musik
und Musikwahrnehmung lernen", so Prof. Widmer. Es könnten sich Antworten auf folgende Fragen finden lassen:
Wie "funktioniert" musikalischer Ausdruck? Woran liegt es, dass wir eine Aufnahme als "spielerisch"
oder "leicht" empfinden, eine andere als "ernst" oder gar "dramatisch"? Wie einig
sind sich menschliche Hörer in dieser Einordnung und in ihrer Beschreibung des Charakters einer Aufnahme?
Was sind die relevanten musikalischen Dimensionen (Tempo, Rhythmus, etc.), die einen musikalischen Charakter ausdrücken
können?
Interdisziplinärer Forschungsansatz
"Es handelt sich hier um wirkliche Grundlagenforschung. So soll in erster Linie neues Wissen über
komplexe Zusammenhänge gewonnen werden. Wir verwenden Computer also als Werkzeug zum Analysieren und Modellieren
von menschlichen Wahrnehmungsleistungen und hoffen, dadurch mehr darüber zu lernen, wie Musikwahrnehmung (oder
Musik überhaupt) ‚funktioniert'", betont Prof. Widmer.
Zum Gelingen des Projekts ist ein hochgradig interdisziplinärer Zugang erforderlich: Es werden Methoden
der Musikinformatik, Signalverarbeitung und Mustererkennung (zum Erkennen von Beat, Rhythmus, Melodie, etc.) mit
Erkenntnissen zur Musikwahrnehmung aus der neueren Musikwissenschaft und der Musikpsychologie verknüpft werden.
Mittels neuester Methoden der künstlichen Intelligenz und des maschinellen Lernens (Machine Learning) werden
Computer riesige Sammlungen von (klassischen) Musikaufnahmen analysieren und selbst lernen, welche objektiv messbaren
Parameter einer Aufnahme (z.B. Tempo, Dynamik, Klangfarbe) systematisch mit subjektiven Ausdruckskategorien verknüpft
sind. Zur Datengewinnung werden in großflächigen Experimenten mit Musikhörern deren subjektive
Eindrücke und Kategorisierungen gesammelt und systematisiert.
Prominente Unterstützer
Prof. Widmer konnte für sein Projekt schon im Vorfeld bedeutende Unterstützer aus der Welt der Klassischen
Musik gewinnen: So bieten etwa das Herbert-von-Karajan-Institut in Salzburg und das berühmte Königliche
Concertgebouw-Orchester Amsterdam ihm freien Zugang zu ihren Musikarchiven, letzteres bietet sogar an, Live-Experimente
im ehrwürdigen Concertgebouw-Saal durchzuführen. Der Musikverlag Bärenreiter in Kassel bietet ihm
für Forschungszwecke freien Zugang zu seinen kompletten (computerlesbaren) Notentexten und Partituren.
Grundlagenforschung mit hohem Innovationspotential
Mit den seit 2007 bestehenden ERC Grants fördert die EU risikoreiche vielversprechende Grundlagenforschung.
Die Advanced Grants stellen dabei das "Flaggschiff" des ERC-Programms dar, mit dem etablierte Spitzenforscher
angesprochen werden. Die ERC Grants gelten als eine Art Benchmark für die Qualität der Forschung an einem
Standort. Sie sind extrem kompetitiv, mit Erfolgsquoten um die 10 Prozent. Bislang wurden 4.700 Forschungsprojekte
in allen Grant-Kategorien in ganz Europa gefördert.
"Wir werden sehen, wie weit wir kommen", ist Prof. Widmer zuversichtlich. "Es geht genau um die
Frage, wie weit Ausdrucksdimensionen in der musikalischen Kommunikation messbar, beschreibbar, modellierbar und
vorhersagbar sind, und wo die Grenze liegt, jenseits derer die individuelle Erfahrung und Wahrnehmungswelt liegt.
Mit anderen Worten: was ist kulturell definiert und systematisch fassbar, was ist individuell und für Maschinen
ohne Lebenserfahrung schlicht unzugänglich?"
Der ERC-Grant bietet Prof. Widmer nun die Möglichkeit, mit seinem Forschungsteam längerfristig, fundiert
und in großem Stil eine sehr schwierige Frage anzugehen. "Gleichzeitig dokumentiert er, dass dieses
schwer fassbare Thema von der Wissenschaftswelt als wichtig gesehen wird, und dass uns zugetraut wird, hier wirklich
fundamentale Fortschritte zu machen", so Prof. Widmer.
Alle 5 ERC Grants in Oberösterreich befinden sich an der JKU
Aktuell gibt es in Oberösterreich fünf ERC-Grants, die alle die JKU für sich verbuchen kann.
Die bestehenden vier ERC-Grants wurden alle im Fachbereich Physik eingeworben von Prof.in Alberta Bonanni, Prof.
Thomas Klar, Prof. Siegfried Bauer und Dr. Georgios Katsaros. Der ERC-Grant von Prof. Widmer ist der erste im Fachbereich
Informatik. Alle fünf ERC-Grants zusammen sind mit 8,7 Mio. Euro dotiert-
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