Sondergemeinderat: Zurückblicken, erinnern, nach vorne schauen
Graz (stadt) - 70 Jahre Kriegsende, 70 Jahre Zweite Republik. In einer großen Sondersitzung erinnerte
der Grazer Gemeinderat am 07.05. an die Geschehnisse der vergangenen sieben Jahrzehnte; gemeinsam richtete man
den Blick aber auch nach vorne. Mehr als 400 Personen, unter ihnen hochrangige Persönlichkeiten, nahmen die
Einladung von Bürgermeister Siegfried Nagl in die Grazer Stadthalle an.
Bürgermeister Nagl begrüßte viele Ehrengäste, unter ihnen Alt-Landeshauptmann Josef Krainer,
Ex-Landesrat Kurt Jungwirth, Ex-Vizekanzler Josef Riegler sowie die steirischen Landesräte Bettina Vollath
und Johann Seitinger. Mit dabei waren auch hohe VertreterInnen der Kirchen wie Diözesanadministrator Heinrich
Schnuderl, Superintendent Hermann Miklas sowie die Vorsitzende der israelischen Kultusgemeinde Ruth Kaufmann.
Nachdem die beiden Universitätsprofessoren Stefan Karner und Karin Schmidlechner einen historischen Blick
auf die Geschehnisse geworfen haben, referierte auch eine Person, die Geschichte geschrieben hat: Der ehemalige
polnische Gewerkschaftsführer, spätere Staatspräsident und Friedensnobelpreisträger Lech Wa?e;sa
hielt im Rahmen der Gedenkveranstaltung eine Rede an die Jugend.
"Wir sind die Moorsoldaten"
Mit einem Lied, das unter die Haut ging, eröffnete der HIB.art.chor unter der Leitung von Maria Fürntratt
die Gedenkveranstaltung. Das Lied "Wir Moorsoldaten" wurde im Jahr 1933 von KZ-Häftlingen gesungen,
die im Lager Börgermoor gefangen gehalten wurden. Die Insassen, die mit einfachen Spaten das Moor kultivieren
mussten, waren vorwiegend politische Gegner des Nazi-Regimes gewesen.
Bürgermeister Nagl: Müssen uns für Frieden und Sicherheit einsetzen
"Wir gedenken heute offiziell an jenen Tag damals, als das Grauen ein Ende hatte", eröffnete
Bürgermeister Nagl die Sitzung. Er erinnerte an das Leiden jener, die Opfer des Krieges und Opfer von von
abscheulichen Verbrechen waren - Verbrechen gegen Juden, Sinti und Roma, behinderte Menschen, homosexuelle Menschen
und politisch Andersdenkende.
"Was bedeutete der 8. Mai 1945? Europa lag damals in Schutt und Asche. 6 Millionen Menschen wurden bestialisch
ermordet. 35 Millionen Soldaten kehrten nicht zurück. Mehr als 30 Millionen Menschleben zahlten mit ihrem
Leben für diesen Krieg. Man kann einen Krieg beginnen, aber nicht beenden, wann man will", betonte Nagl.
"Wir haben daher die Pflicht, uns für Frieden und Sicherheit, für Verständigung und Menschenrechte
einzusetzen."
Wie sehen Grazer KommunalpolitikerInnen die Lage damals und heute? Dieses Video gibt Antworten darauf.
Stefan Karner: Erinnern wir uns an das Graz im Mai 1945
Der bekannte Historiker für Zeitgeschichte Stefan Karner beschrieb mit eindringlichen Worten, welche Brutalität,
welches Chaos und Verwirrung in den Tagen des Kriegsendes in Graz herrschten. "Das faschistische System klammerte
sich bis zuletzt mit oft großer Brutalität an die Macht", fasste er zusammen. Es gab in Graz Hinrichtungen
bis in die letzten Kriegstage, Deserteure wurden erschossen, jüdische Gefangene hingerichtet und viele andere
Verbrechen begangen. Im Sommer 1945, fasste Karner zusammen, wurde eine erschütternde Bilanz gezogen: Über
22.788 Menschen waren in der NS-Zeit alleine aus politischen Gründen in Grazer Gefängnissen gesessen.
"Graz war damals die Stadt der Volkserhebung, gleichzeitig war es aber auch ein Ort des heftigen Widerstands
gewesen.
Karin Schmidlechner: Die Rolle der Frauen
Einen differenzierenden Blick auf die Rolle und den Alltag von Frauen warf Historikerin Karin Schmidlechner. "Wir
sollte nicht vergessen, dass viele Frauen das NS-Regime unterstützt haben, viele andere Frauen waren aber
auch Opfer des Systems", so die Universitätsprofessorin.
Sie rückte das Bild der "Trümmerfrauen" zurecht: "Es gab zwar eine Zwangsverpflichtung
für Aufräumearbeiten, das betraf aber durchschnittlich nur rund 70 Frauen. Nur wenige Frauen beteiligten
sich am Aufräumen freiwillig."
Wie sah nun das Leben damals aus? Hausarbeit war damals eine Schwerst- und Überlebensarbeit und nicht mit
Hausarbeit von heute zu vergleichen, schilderte die Historikerin die damalige Situation. Es mangelte damals an
allem, an Nahrung, Seife, Waschmittel, Kleidung uvm. Nach 1945 kam es auch zu Hungerdemonstrationen und Protesten.
Frauen hatten aber einen großen Anteil am gesellschaftlichen Wiederaufbau nach 1945, so Schmidlechner,
obwohl freilich die politischen Strukturen, die sich neu bildeten, erneut männerdominiert waren.
Zwei Botschafter des Friedens
Nie vergessen! Zwei junge Gedenkdiener - also Zivildiener, die ihren Dienst in Erinnerungsstätten im Ausland
verbrachten - erzählten ihre Beweggründe und Erfahrungen. Julian Sorgo war Gedenkdiener im Galicia Jewish
Museum in Krakau und führte dort Schul- und andere Besuchergruppen durchs Museum. "Ich versuchte dabei,
den Kontext des Holocausts zu vermittelten, dass die Vernichtung von Menschen, von Juden auch die Vernichtung einer
Kultur ist, die für immer verloren ist", schilderte er seine Erfahrungen.
In Toronto, im Neuberger Holocaust Education Centre arbeitet Alexander Schelischansky derzeit als Gedenkdiener.
"Wir machen Veranstaltungen zu jüdischen Gedenk- und Feiertagen, haben jeden Tag mindestens eine Schulklasse
im Center und bieten viele Angebote zur geschichtlichen Fort- und Weiterbildung." Schelischansky befasst sich
weiters mit Zeitzeugen - eine Arbeit, die, so berichtete er, einerseits bereichernd, aber auch herausfordernd ist.
Lech Wa?e;sa: Praktische Lösungen für Krisen suchen
Mit Standing Ovations wurde der ehemalige Präsident Polens, frühere Gewerkschaftsführer und Friedensnobelpreisträger
Lech Wa?e;sa in der Grazer Stadthalle begrüßt. Seine Berührungspunkte mit dem Ende des Weltkrieges
sind zum einen sehr persönlicher Natur: "Mein Vater war damals zwar noch aus dem Krieg zurückgekehrt,
ist dann aber schon im Juni 1945 an den Folgen des Krieges verstorben", erzählte er. Zum anderen waren
für Wa?e;sas Heimat die Probleme mit dem Jahr 1945 nicht zu Ende: "In Polen und einigen anderen Länder
ist man damals vom Faschismus zum sowjetischen Kommunismus übergegangen. Der Kommunismus war nicht so mörderisch,
aber Freiheit hatten wir trotzdem keine. Erst unser Kampf um die Freiheit hat dazu geführt, dass der Krieg
in Polen faktisch zu Ende gegangen ist." Wa?e;sa richtete in seiner Rede den Blick aber überwiegend in
die Zukunft und appellierte an die ZuhörerInnen: "Ich bin ein gelernter Elektriker und im Kern ein Praktiker.
Suchen wir also nach den praktischen Lösungen für die Krise der Demokratie, der Wirtschaft und der Globalisierung,
denn das sind wir den künftigen Generationen schuldig!"
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