Verfassungsausschuss: Staatssekretärin warnt vor Vertrauensverlust in EU bei unsozialen
Reformschritten
Wien (pk) - Wenn die Europäische Union bei ihren Maßnahmen für mehr Wirtschaftswachstum
die dramatischen sozialen Folgen der Wirtschaftskrise in vielen Mitgliedsländern weiter nicht hinlänglich
beachte, verliere sie an Glaubwürdigkeit. Notwendig sei daher ein verbessertes Monitoring der gesellschaftspolitischen
Auswirkung von Reformen, unterstrich Staatssekretärin Sonja Steßl am 06.05. im Verfassungsausschuss
des Nationalrats, als die Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion debattiert wurde. Bedenken
einiger Abgeordneten, eine Vertiefung der wirtschafts- und fiskalpolitischen Zusammenarbeit könnte schließlich
zu einem Finanzminister für die gesamte Eurozone führen, entkräftete Steßl. Ziel der stärkeren
Koordinierung im Binnenmarkt sei die Steigerung von Wachstum und Beschäftigung, wobei der Vertiefungsprozess
immer demokratisch legitimiert sein müsse.
Grundlage der Diskussion bildete der aktuelle EU-Vorhabensbericht, den das Kanzleramt dem Parlament vorgelegt hat
und den der Ausschuss zur weiteren Behandlung einstimmig vertagte. Von den Themen darin griffen die MandatarInnen
nicht nur die EU-Wachstumspolitik, sondern auch das geplante Handelsabkommen TTIP mit den USA, die Fortschritte
im digitalen Binnenmarkt sowie die Flüchtlingspolitik der Union heraus.
Insgesamt hat die EU-Kommission dem Bericht zufolge zehn Prioritäten für das Jahr 2015 festgelegt. Neben
neuen Impulsen für Arbeitsplätze, Wachstum und Investitionen und einer engeren Koordination der Wirtschaftspolitik
werden unter anderem auch ein vertiefter, fairerer Binnenmarkt, das Freihandelsabkommen TTIP, eine zukunftsorientierten
Klimaschutz- und Energiepolitik, die Ausweitung der Digitalisierung sowie ein stärkerer Fokus auf Grundrechte
und Rechtsstaatlichkeit genannt. Eine neue Migrationspolitik steht ebenfalls auf der Kommissionsagenda.
Wachstum und Beschäftigung sozial verträglich vorantreiben
Angesichts der weiterhin trüben Wirtschaftsprognosen für die Europäische Union reichten eine wirtschaftsfreundliche
Konsolidierung der Staatshaushalte sowie Strukturreformen allein nicht aus, betonte Steßl. Aus österreichischer
Sicht trügen besonders vermehrte Investitionen zu Wachstum und Beschäftigung bei. Sie begrüßte
zwar das von der Europäischen Kommission angestoßene Investitionspaket von 315 Mrd. € , urgierte aber
vermehrte Maßnahmen zur Bewältigung der sozialen Krise in vielen EU-Mitgliedsstaaten, um gesellschaftspolitisch
destabilisierende Folgen von Arbeitslosigkeit und Verarmung zu vermeiden. Zu hoffen sei, dass wie angekündigt
sowohl Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker als auch die kommende Ratspräsidentschaft Luxemburg der
sozialen Dimension in der Krisenbewältigung eine bedeutendere Rolle einräumen. Für Österreich
nannte die Staatssekretärin die geplante Steuerreform als wichtigen Impuls zur Kaufkraftstärkung, was
wiederum Investitionen anrege. Zudem riet sie, die EU-Mitgliedsstaaten sollten ihre fiskalpolitischen Spielräume,
soweit vorhanden, besser nutzen, da im gemeinsamen Wirtschaftsraum vom Wachstum einzelner Mitgliedsstaaten auch
die anderen profitierten.
SPÖ-Abgeordneter Josef Cap mahnte im Einklang mit Steßl die soziale Verantwortung der EU bei den Arbeiten
zum vertieften Binnenmarkt ein und warnte davor, bei einer engeren Kooperation der Euro-Länder den demokratischen
Pfad auf Kosten der nationalen Budgetsouveränität zu verlassen. Ähnlich wie Cap stieß sich
auch Reinhard Eugen Bösch (F) an einer völligen Zentralisierung der Wirtschafts- und Währungsunion
inklusive eines europäischen Finanzministers, zumal dies zu einer Art Finanzausgleich in der EU führen
könnte.
Besondere Bedeutung bei der Erreichung der EU-Wachstumsziele komme der Strategie "Europa 2020" und dem
so genannten "Europäischen Semester" zu, beschrieb Staatssekretärin Steßl die EU-Programme
für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wirtschaftswachstum bzw. zur besseren Abstimmung der nationalen
Haushalte. Sinnvoll wäre es in ihren Augen, die Wachstumsstrategie mit der wirtschaftlichen Entwicklungssteuerung
enger zu "verzahnen", da die Krisenbewältigung von beiden Bereichen abhänge.
Im Rahmen des EU-Investitionsprogramms, über dessen Finanzierung laut Steßl das Europäische Parlament
im Juni abstimmen wird, habe Österreich bereits zahlreiche Förderprojekte eingereicht, die vor allem
öffentliche bzw. privat-öffentliche Initiativen seien. Sie nannte unter anderem den Ostsee-Adria-Schienen-Korridor
mit Beteiligung der ÖBB sowie Ausbauoffensiven bei Forschungsinfrastruktur und bei nachhaltiger Gebäudesanierung.
EU-Mittel aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den ÖVP-Regionalpolitiksprecher
Nikolaus Berlakovich thematisierte, flössen ebenfalls in mehrere Programme, wobei Kooperationen mit Partnerländern
aus dem Donau- und aus dem Alpenraum in der neuen Kohäsionspolitik der EU ermöglicht würden. Gemeinsam
mit den Mitteln aus dem Europäischen Sozialfonds betrage der Förderumfang hier insgesamt 1,2 Mrd.€.
TTIP muss demokratischen Standards entsprechen
Als eine der wirtschaftspolitischen Prioritäten der EU-Kommission im aktuellen Jahr brachte Grünen-Abgeordneter
Albert Steinhauser das anvisierte Transatlantische Handelsabkommen TTIP zur Sprache. Alarmiert vermerkte er, Überlegungen
der Europäischen Kommission zufolge sollte sich ein eigenes Beratungsgremium mit Rechtsakten zu TTIP auseinandersetzen,
und zwar noch vor der Befassung des Europäischen Parlaments mit den Legislativvorschlägen. Ein solcher
Vorgang käme einer "Entdemokratisierung" der Verfahren gleich, meinte er ebenso wie Josef Cap (S),
der solche Beratungseinrichtungen höchstens für transparentes Lobbying verwendet wissen wollte. Steinhausers
Vorwurf, in puncto Schiedsgerichte zu den Investitionsschutzklauseln für Konzerne gebe es von Österreich
keine klare Position, hielt Staatssekretärin Steßl entgegen, Bundeskanzler Werner Faymann habe im Europäischen
Rat ein klares Bekenntnis zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit abgelegt.
Zum Stichwort "Rechtsstaatlichkeit" warf Nikolaus Scherak von den NEOS das Stocken des EU-Beitrittsverfahrens
zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) auf. Ungeachtet der Argumentation des Europäischen Gerichtshofs,
der im Vertragsentwurf dazu grundlegende Unionsrechte verletzt sieht, stieß sich Scherak vor allem an der
vagen Positionierung Österreichs in dieser Frage; das Bekenntnis zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit reiche
hier nicht aus, sagte er bezugnehmend auf den Kanzleramtsbericht.
Bei der Ablehnung von Schiedsgerichten zur Streitbeilegung zwischen Staaten und Unternehmen im Rahmen von TTIP
werde es keine Kompromisse geben, auch wenn die Verhandlungen zum Übereinkommen tatsächlich bis Ende
2015 abgeschlossen sein sollten, so Steßl, gleiches gelte auch für das CETA-Abkommen mit Kanada. Das
von Steinhauser und Cap angesprochene regulatorische Kontrollgremium dürfe dabei in keiner Weise den Entscheidungsspielraum
der demokratisch legitimierten Institutionen einschränken.
Digitaler Binnenmarkt soll neue Wachstumschancen eröffnen
Eine echte Chance für die Wirtschaft stellt für Staatssekretärin Steßl die digitale Agenda
der EU dar. Hindernisse beim Datentransfer würden dadurch für Unternehmen wie für Privatpersonen
abgebaut, wobei Cyber-Sicherheit, Datenschutz und VerbraucherInnenrechte, und ein umfassender Internetzugang Priorität
hätten. Um den digitalen Binnenmarkt voranzutreiben, hat die EU-Kommission in ihrem Arbeitsprogramm 2015 ein
ambitioniertes Paket angekündigt, geht aus dem EU-Vorhabensbericht der Regierung hervor. Unter anderem sollen
neue legislative Schritte gesetzt, der Regulierungsrahmen für den Telekommunikationssektor ergänzt, die
EU-Gesetzgebung zum Urheberrecht modernisiert und die Cyber-Sicherheit gestärkt werden. Einzelne Initiativen
werden schon länger verfolgt, etwa was die verbesserte Interoperabilität der EDV-Systeme der öffentlichen
Verwaltungen und den erleichterten grenzüberschreitenden Zugang von BürgerInnen und Unternehmen zu IKT-gestützten
öffentlichen Dienstleistungen anlangt. Hinsichtlich des EU-Aktionsplans zum E-Government sagte die Staatssekretärin,
Österreich liege hier im Spitzenfeld der Umsetzung verglichen mit den anderen Mitgliedsstaaten.
Abgeordnetem Cap (S) gegenüber versicherte Steßl, der geplante digitale Binnenmarkt in der Europäischen
Union ziele nicht auf eine reine Liberalisierung ab, sondern habe vorrangig eine verbesserte europäische Koordinierung
der Internet- und Kommunikationsbranche zum Ziel. Die Pläne der Europäischen Kommission beinhalten daher
auch eine gemeinschaftliche Strategie für mehr Cyber-Security, unter anderem mit erweiterten Meldepflichten
für Netzwerkbetreiber, zumal eine Zunahme der Cyber-Kriminalität zu beobachten sei, gab Steßl Abgeordnetem
Otto Pendl (S) recht. Sie skizzierte überdies den derzeit im Rat behandelten Richtlinienentwurf der Kommission
zur Stärkung der Cyber-Sicherheit, mit dem öffentliche und private Betreiber wesentlicher Dienste – etwa
in den Bereichen Energie, Verkehr, Bankwesen, Finanzmarkt, Wasserversorgung, Gesundheit und Internet – dazu angehalten
werden sollen, angemessene Sicherheitsvorkehrungen zu treffen und signifikante Störfälle zu melden.
Pendl sprach sich generell für eine bessere Koordinierung der Sicherheitsmaßnahmen im Online-Bereich
aus, wobei ihm als effizienteste Lösung die Zusammenlegung der nationalen Regulierungskompetenzen vorschwebt.
Flüchtlingsfrage braucht europäische Antwort
Überschattet von den jüngsten Flüchtlingstragödien im Mittelmeer kam auch die Migrationspolitik
Europas im Verfassungsausschuss zur Sprache. Seitens der SPÖ unterstrichen Josef Cap und Otto Pendl, wirtschaftliche
und außenpolitische Lösungen seien zur Behebung von Flüchtlingskrisen weit eher gefragt, als sicherheitspolitische
Maßnahmen. Nicht nur kriegerische Auseinandersetzung, sondern auch extreme Armut trieben nämlich viele
Flüchtlinge aus ihren Heimatländern, hielt Cap fest. Folglich gelte es seitens Europas und auch der USA,
vor Ort für Stabilität zu sorgen. Da Migration ein eindeutig europäisches Thema sei, bestätigte
Steßl, müsse die Politik auf EU-Ebene aktiv werden. Konkret sprach sie den kommenden EU-Migrationsgipfel
in Malta an, bei dem gemeinsam mit afrikanischen Partnerländern die Bewältigung der Flüchtlingsproblematik
beraten werde. Außerdem sei neben erhöhten Beiträgen zur Entwicklungszusammenarbeit eine Quotenregelung
für eine gerechte Verteilung Asylsuchender auf die EU-Länder nötig.
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