Enquete des Bundesrats diskutiert Möglichkeiten der Verbesserung von Berufs- und Bildungschancen
Jugendlicher
Wien (pk) - Der Zugang zu Bildung und Beruf sind lebensbestimmende Schlüsselfragen für junge Menschen.
Angesichts eines schwierigen und im raschen Wandel befindlichen wirtschaftlichen Umfelds stellt besonders das Anwachsen
der Gruppe Jugendlicher und junger Erwachsener, die keine Schule besuchen, keiner Arbeit nachgehen und sich nicht
in beruflicher Ausbildung befinden ("Not in Education, Employment or Training - NEET") eine Herausforderung
an die Politik dar. Für PolitikerInnen und ExpertInnen bot sich am 02.06. im Rahmen der parlamentarischen
Enquete des Bundesrats "Schlummernde Talente: Perspektiven für Jugendliche und junge Erwachsene (NEETs)"
Gelegenheit, sich über die Aufgaben der Arbeitsmarktpolitik und die Angebote für Jugendliche und junge
Erwachsene auszutauschen. Eröffnet wurde die Enquete von Bundesratspräsidentin Sonja Zwazl. Weitere Einleitungsreferate
hielten Sozialminister Rudolf Hundstorfer, Staatssekretär Harald Mahrer und Mario Steiner vom Institut für
Höhere Studien (IHS).
Zwazl: Enquete soll "Weckruf für Talente" sein
"Jeder junge Mensch verfügt in diesem oder jenem Bereich über besondere Begabungen" zeigte
sich Bundesratspräsidentin Sonja Zwazl in der Eröffnungsrede zur Enquete überzeugt. Viel zu oft
würden jedoch Begabungen von den Jugendlichen selbst und ihrem Umfeld einfach übersehen, mit schwerwiegenden
Folgen für ihr Selbstbewusstsein und ihr weiteres Leben. Sie hoffe, dass aus der Veranstaltung ein Weckruf
für unerkannte und verborgene Talente und damit für diese jungen Menschen entstehe, sagte Zwazl.
Die Politik und letztlich die gesamte Gesellschaft dürften nicht tatenlos zusehen, wenn junge Menschen völlig
aus dem Rahmen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens fallen, forderte Zwazl. Das nicht nur deshalb, weil die
Folgekosten für unser Sozialsystem enorm seien und Jugendliche, die ihren Weg nicht finden, zum Risikofaktor
für die gesamte Gesellschaft werden könnten. "Nicht zusehen dürfen wir vor allem, weil jeder
einzelne Mensch wertvoll ist. Die Würde des Menschen ist unteilbar", unterstrich Zwazl. Daher dürfe
niemand zurückgelassen werden.
Hundstorfer: Allen Achtzehnjährigen einen formalen Bildungsabschluss ermöglichen
Sozialminister Rudolf Hundstorfer leitete sein Statement mit der Feststellung ein, dass sich heute für Menschen
ohne formalen Bildungsabschluss kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt bieten. Österreich unternehme deshalb viel,
um nachträgliche Qualifizierungen zu ermöglichen. Einen neuen Ansatz versuche man mit dem Jugend- bzw.
Lehrlings-Coaching. Hier gehe es darum, zu verhindern, dass es zum vorzeitigen Abbruch einer Ausbildung kommt.
Für das Programm, das jährlich 30.000 Jugendliche erreicht, wende man pro Jahr 25 Mio. € auf. In den
zwei Jahren seiner Laufzeit sei es bereits gelungen, die Zahl der frühzeitigen Schulabbrüche nachweislich
zu senken, hob Hundstorfer hervor.
Der Sozialminister erläuterte auch das Projekt der Regierung, eine Ausbildungsverpflichtung bis zum 18. Lebensjahr
einzuführen. Damit soll sichergestellt werden, dass alle Jugendlichen mehr als einen Pflichtschulabschluss
erwerben. Diese Verpflichtung enthalte auch ein Recht auf Ausbildung, betonte der Minister. Als Beginn ist das
Schuljahr 2016/17 geplant.
Mahrer: Nationaler Schulterschluss für das Bildungssystem ist notwendig
Staatssekretär Harald Mahrer nahm den derzeit ablaufenden tiefgreifenden wirtschaftlichen und technologischen
Wandel zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Das Bildungssystem stehe angesichts der enormen Dynamik dieser
Entwicklung vor riesigen Herausforderungen, sagte er. Derzeit sei das österreichische Schulsystem eindeutig
nicht in der Lage, Talente ausreichend zu erkennen und zu fördern. Dazu müsse man im Bereich der frühkindlichen
Förderung und der Elementarpädagogik ansetzen. Nur darauf können weiteren Schritte im Bildungssystem
aufbauen, unterstrich Mahrer. Er halte deshalb eine tertiäre Ausbildung zumindest eines Teils der ElementarpädagogInnen
für erstrebenswert.
Der Staatssekretär rief zu einem nationalen Schulterschluss für das Bildungssystem auf. Die Talentförderung
müsse ganz neu gedacht werden. Er hoffe, dass eine sachlichen Diskussion über alle aktuellen Fragen des
Bildungssystems entstehe, sagte Mahrer.
Steiner: Soziale Selektivität des österreichischen Schulsystems vermindern
Mario Steiner (IHS) erläuterte die Ergebnisse einer 2013 von der Universität Linz durchgeführten
Studie über NEET-Jugendliche in Österreich. Der Umfang des Problems könne aufgrund neuer Daten besser
als bisher erfasst werden. Statt den bisher geschätzten 7-8 % oder 45.000 frühen BildungsabbrecherInnen
bei den 15- bis 24-Jährigen liege das Problem eher in der Größenordnung von 12 % bzw. 128.000 Personen.
Es handle sich um ein vor allem städtisches Problem und betreffe überdurchschnittlich Jugendliche mit
Migrationshintergrund. Der fehlende Abschluss wirke sich in weiterer Folge auf die Chancen am Arbeitsmarkt aus
und münde oft in sozialer Ausgrenzung. Eine reine Verlängerung der Schulpflicht sei nicht die Antwort,
da die oft sehr individuellen Gründe für einen fehlenden Abschluss dadurch nicht beseitigt würden,
meinte Steiner. In Österreich habe man sehr lange mit einem "defizitorientierten Kompensationsansatz"
in Form von Angeboten zur Nachqualifizierung reagiert. Das Angebot sei sehr breit, allerdings teilweise unkoordiniert.
Steiner sah den Ansatz, der im Jugend-Coaching zum Ausdruck kommt, als vielversprechend. Auch das Konzept des Lebenslangen
Lernens der EU sei ein richtiger Ansatz, doch fehle es hier an budgetärer Ausstattung und Strukturen.
Steiner sah drei Handlungsfelder, um das Problem des frühzeitigen Bildungsabbruchs in den Griff zu bekommen.
Als erstes sei es notwendig, die starke soziale Selektivität, die das österreichische Schulsystem aufweise,
durch verschiedene Maßnahmen zu steigern. Dazu zähle auch die gemeinsame Schule der Zehn- bis Vierzehnjährigen.
Weiters müsse die Effektivität des Schulsystems gesteigert werden. Für Steiner ist eine der Bedingungen
dafür eine weitreichende Schulautonomie. Als Drittes gelte es, eine politisch ernstgemeinte Strategie gemeinsam
mit allen Stakeholdern zu entwickeln. Das schließe auch eine ausreichende Budgetierung ein.
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Regierung will Ausbildung bis 18 verpflichtend machen
Vor welchen Herausforderungen arbeitslose Jugendliche ohne Ausbildung stehen, was das für den heimischen
Arbeitsmarkt bedeutet und wie das Bildungswesen gegensteuern kann: diesen Fragen widmeten sich eingehend die ExpertInnen
bei der Enquete des Bundesrats "Schlummernde Talente: Perspektiven für Jugendliche und junge Erwachsene
(NEETs)" . Einig waren die RednerInnen, zur Verbesserung der Zukunftschancen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen
brauche es vor allem eine gute Bildung, die für den Arbeitsmarkt qualifiziert und zielgerichtet Stärken
fördert.
"AusBildung bis 18"-Initiative soll 2016 starten
"Alle unter 18-jährigen sollen nach Möglichkeit eine über den Pflichtschulabschluss hinausgehende
Ausbildung abschließen", zitierte Sonja Schmöckel vom Sozialministerium (BMASK) aus dem aktuellen
Regierungsprogramm. Neun Jahre Schulbildung würden einfach für die bestehenden Anforderungen am Arbeitsmarkt
nicht mehr ausreichen. Unter dieser Maxime setzte die Bundesregierung gemeinsam mit Ländern, Gemeinden, Sozialpartnern
und Arbeitsmarktservice (AMS) die Initiative "AusBildung bis 18" um, beginnend mit den PflichtschulabsolventInnen
im kommenden Schuljahr und im Vollausbau ab 2016/2017. Ein Gesetzesentwurf dafür befinde sich derzeit in Ausarbeitung.
Entsprechend den Interessen und Bedürfnissen jeder/s Einzelnen würden den jungen Menschen in Kooperation
mit den Schulen schon frühzeitig verschiedene Angebote gemacht, skizzierte die Expertin für Arbeitsmarktförderung:
vom Besuch einer höheren Schule, der Absolvierung einer dualen Ausbildung oder einer reintegrativen arbeitsmarktpolitischen
Maßnahme bis hin zur Teilnahme an einem Programm für Jugendliche mit besonderem Unterstützungsbedarf.
"Junge Menschen, die keinen über die Pflichtschule hinausgehenden Abschluss verfügen, haben ein
dreifaches Arbeitslosigkeitsrisiko", brachte Schmöckl die Problematik auf den Punkt. Ein Fünftel
dieser Personengruppe sei armutsgefährdet. Finanzielle Sanktionen sollen laut Schmöckel möglichst
vermieden werden, wenn Minderjährige nicht an der Ausbildungsinitiative teilnehmen, weil dadurch "Personen
zusätzlich belastet wären, die ohnehin sozial schwächer sind, und eine Verhaltens-und Bewusstseinsänderung
damit kaum verbunden sein würde". Strafzahlungen wären somit erst "gegebenenfalls am Ende eines
langen Unterstützungsprozesses" anzudenken.
Wie berufliche und soziale Re-Integration konkret aussehen kann, beschrieb Sebnem Ertl, Direktorin der Produktionsschule
Leonding bei Linz. Diese Einrichtung des Berufsförderungsinstitut bfi ermögliche jungen Menschen zwischen
16 und 24 Jahren, "die maximal einen Pflichtschulabschluss vorweisen können", erste Schritte in
Richtung geregelter Berufsausbildung zu setzen. Psychosoziale Betreuung auf freiwilliger Basis und fachliche Begleitung
durch FachtrainerInnen gingen an der Produktionsschule bei der handwerklichen und persönlichen Entwicklung
der Jugendlichen, die zu 75% Migrationshintergrund haben, Hand in Hand. Kontaktschwierigkeiten zwischen Schulteam
und TeilnehmerInnen bzw. deren Eltern gebe es aufgrund der unterschiedlichen Migrationsbiographien der BetreuerInnen
kaum, so Ertl. Nicht nur die Aneignung theoretischen Wissens stehe im Fokus des pädagogischen Konzepts, sondern
auch die Integration als respektvoller Umgang mit verschiedenen Kulturen, Denkweisen und Werten. "Die Jugendlichen
sollen fähig sein, ihr Leben selbstbestimmt und eigenverantwortlich meistern zu können", betonte
die im Vorjahr als Integrationsbotschafterin Ausgezeichnete, deren Eltern als Arbeitsmigranten in den 1960er Jahren
aus der Türkei eingewandert waren.
Näher auf die psychosoziale Dimension von Arbeitslosigkeit in jungem Alter ging Allgemeinmediziner Dieter
Schaufler ein. "Sinngebende Arbeit" nannte der Präsident der Österreichischen Gesellschaft
für tiergestützte Therapie und Leiter des Zentrums Mauritiushof im Waldviertel als bestes Mittel, arbeitslose
Jugendliche aus dem Gefühl der Wertlosigkeit herauszuführen. Der Mauritiushof biete als echter landwirtschaftlicher
Betrieb jungen Leuten ohne Perspektive jene "Unterstützung zur Selbsthilfe", die sie benötigten,
um eigenverantwortlich über ihr Fortkommen zu entscheiden. Bedeutend seien dabei der geregelte Tagesablauf,
abgestimmt auf die artgerechte Versorgung der Tiere und Erfolgserlebnisse in der Arbeit sowie die Vermittlung von
sozialen Kompetenzen wie "Teamfähigkeit" durch professionelle BegleiterInnen.
Bildungssystem als Sprungbrett in die Arbeitswelt
Österreich habe zwar im EU-Vergleich eine relativ geringe Zahl an SchulabbrecherInnen und dank der dualen
Berufsausbildung ein gutes Instrument gegen Jugendarbeitslosigkeit, räumte Johannes Kopf, Vorstand des Arbeitsmarktservice
(AMS), ein. Doch biete der heimische Arbeitsmarkt für jene, die keinerlei Abschlüsse besitzen, kaum Möglichkeiten
beruflich Fuß zu fassen. "In den letzten 24 Jahren ist die Arbeitslosenquote von Personen mit maximal
Pflichtschulabschluss von 9% auf rund 24% gestiegen, hat sich also mehr als verdoppelt!" zeigte er auf und
folgerte, vor allem das Bildungssystem sei hier gefragt. Erst nach Ende der Schulpflicht mit arbeitsmarktpolitischen
Maßnahmen anzusetzen, um "ausgrenzungsgefährdete Jugendliche" bei der gesellschaftlichen Integration
zu unterstützen, sei oftmals zu spät. Anzusetzen sei am besten schon bei der frühkindlichen Erziehung,
um nachhaltig sozial bedingte Chancenungleichheiten auszuräumen, hielt der AMS-Chef fest.
Welche Lösungen die Wirtschaft in Sachen Ausbildungs- und Berufswahl anbietet, beschrieb Peter Zeitler, Vorstand
der WKO-Abteilung für Bildungspolitik. Mit kostenlosen Angeboten der Berufsorientierung bemühe sich die
Wirtschaftskammer Österreich (WKO) um eine "stärkere Verankerung der Berufsinformation in den Schulen",
erklärte er. Immerhin sei die Wirtschaft als Betreiberin der Lehrstellen ein Garant für das duale System
der Berufsausbildung und habe großes Interesse an gutqualifizierten Fachkräften. Positiv vermerkte Zeitler,
mit der Lehrplannovelle für allgemeinbildende höhere Schulen werde auch in den AHS-Unterstufen ab dem
Schuljahr 2016/2017 eine verpflichtende Unterrichtsstunde Berufsorientierung eingeführt; jedoch brauche es
insbesondere an den Schnittstellen am Ende der Schulpflicht bzw. der Sekundarstufe II festgelegte Mindeststandards,
auf die hinzuarbeiten ist, denn "in allen Bildungsbereichen soll anstatt einer negativen Auslese die optimale
Förderung und Entwicklung aller Talente und Potentiale im Vordergrund stehen".
Um verfrühte Bildungsabbrüche zu verhindern, zog Arbeiterkammer-Bildungsexperte Richard Meisel nach,
müsse bei Leistungsschwächen und häufigen Fehlstunden in der Schule möglichst bald interveniert
werden. Einige Modelle dafür gebe es bereits – etwa "Stop Dropout Programme" an berufsbildenden
höheren Schulen oder niederschwellige Maßnahmen wie die von Ertl beschriebenen Produktionsschulen. Nötig
sei aber noch ein Ausbau der Berufsorientierung an der 9. Schulstufe, meinte er ähnlich wie Zeitler, und eine
stärkere Mitwirkung der Schulen, Schulabbruch bei ihren SchülerInnen zu verhindern. Kooperation und Vernetzung
zwischen Schulsozialarbeit, Jugendcoaching, LehrerInnen und Schulpsychologie würden sich hier positiv auf
die weiteren Bildungsverläufe auswirken: "Vor allem bildungsbenachteiligte Gruppe profitieren überproportional
von der verbesserten Zusammenarbeit", zeigte sich Meisel überzeugt.
Zum leichteren Einstieg in die Arbeitswelt bedürfe es neben einer gezielten Berufsorientierung in der Klasse
einer umfassenderen schulischen Förderung, bestätigte Christian Morawek vom Österreichischen Verband
der Elternvereine an öffentlichen Pflichtschulen, der in diesem Zusammenhang auch eine Lanze für qualitativ
hochwertige Elementarbildung ab dem 1. Lebensjahr brach. Er sieht überdies die zielführendste Möglichkeit
zur Förderung der SchülerInnen in ganztägigen Schulen, vor allem in der verschränkten Form,
da sie im Vergleich zu klassischen Halbtagsschulen kostenlose Stütz- und Förderkurse in einem vertrauten
Umfeld an Stelle teurer Nachhilfe böten. Ein Manko im heimischen Bildungswesen ist für Morawek auch "die
frühe Trennung der Bildungswege" nach der 4. Schulstufe, da eine Fehlentscheidung im Alter von 10 oftmals
zu einer "Unlust zu lernen" führe.
Eigene Ziele zu definieren und zu verfolgen, diese Fähigkeit müsse die Schule Jugendlichen vermitteln,
damit sie selbstverantwortliche Bildungs- und Berufsentscheidungen in einer immer komplexer werdenden Arbeitswelt
treffen, resümierte Andrea Fraundorfer, im Bildungsministerium zuständig für Begabungs- und Begabtenförderung
sowie Reduktion der Schulabbrecherquote. Die "AusBildung bis 18"-Initiative sei hier neben dem Ausbau
ganztätiger Schulformen und eines sensiblen Umgangs der Schulstandorte mit potentiellen SchulabbrecherInnen
eine wichtige Maßnahme. "Prävention, Intervention und Kompensation", diese Strategien müssten
im Bildungswesen ineinandergreifen, um die vielfältigen Risikofaktoren für einen Schulabbruch – von gesundheitlichen
Einschränkungen bis zum sozioökonomischen Milieu – bestmöglich auszugleichen.
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