Experten aus Forschung, Lehre und Praxis diskutieren, wie Photovoltaik und Windkraft europaweit
das Energiesystem verändern
Wien (oesterreichsenergie) - Wie Photovoltaik und Windkraft europaweit das Energiesystem verändern,
war Thema der 4. Viktor-Kaplan-Lecture von Oesterreichs Energie in Zusammenarbeit mit der FH Technikum Wien. Aktuell
sind europaweit Windkraftanlagen mit einer Gesamtleistung von rund 128 Gigawatt (GW) sowie Photovoltaikanlagen
mit etwa 80 GW installiert. Der maximale Bedarf an Leistung (Spitzenlast) liegt in den drei wesentlichen europäischen
Verbundnetzen bei 500 GW. Schon heute stellen Wind und Photovoltaik das Lastmanagement vor große Herausforderungen.
"Erneuerbare Energien deckten 2013 rund 22,1 Prozent des weltweiten Strombedarfs, Österreich nimmt mit
77 Prozent eine Spitzenstellung ein", erklärte Barbara Schmidt, Generalsekretärin von Oesterreichs
Energie.
Der Trend Richtung Erneuerbare wird sich in den kommenden Jahrzehnten fortsetzen. Die EU hat beschlossen, den Anteil
der erneuerbaren Energien am Bruttoendenergieverbrauch bis 2030 auf 27 Prozent zu steigern. Weltweit wird laut
Berechnungen der Internationalen Energieagentur (IEA) bis 2040 ein Drittel des Elektrizitätsbedarfs durch
erneuerbare Energien gedeckt werden. Damit ändert sich die Struktur der Stromerzeugung massiv. Großkraftwerke
verlieren an Bedeutung, die Produktion in Kleinanlagen mit wenigen Kilowatt Leistung, z. B. Photovoltaikanlagen,
nimmt dem gegenüber zu. "Dadurch werden vor allem die Verteilnetze, an denen die Ökostromanlagen
angeschlossen sind, erheblich größere Aufgaben wahrnehmen müssen als heute", erklärte
Schmidt. Die an günstigen Standorten installierte Leistung übersteigt oft den regionalen Bedarf. Schmidt:
"Wir brauchen deshalb ein neues Verständnis für die Rollen und Verantwortlichkeiten im Stromsystem,
um die in Österreich in den kommenden Jahren zu erwartenden 4000 MW an Windkraft und 1200 MW an Photovoltaik
ohne Gefahr für die Versorgungssicherheit in die Netze zu intergieren." Diese Herausforderung können
nur alle energiewirtschaftlich und energiepolitisch Verantwortlichen gemeinsam bewältigen, fügte Schmidt
hinzu.
Unterschätzte Entwicklung
Laut Hubert Fechner, Studiengangsleiter der FH Technikum Wien, wurde die Entwicklung der Windenergie und der
Photovoltaik lange Zeit unterschätzt. So vermeinte die damalige deutsche Umweltministerin und heutige Bundeskanzlerin
Angela Merkel im Jahr 1994, Sonne, Wasser und Wind könnten "niemals mehr als vier Prozent zur deutschen
Stromversorgung beitragen." Die Internationale Energieagentur (IEA) prognostizierte 2005, Solaranlagen würden
bis 2050 nicht einmal zwei Prozent der globalen Stromerzeugung ausmachen. Im Jahr 2009 korrigierte sie diesen Wert
allein für Photovoltaikanlagen auf elf Prozent, im Jahr 2014 auf 16 Prozent für Photovoltaik und weitere
mehr als elf Prozent für "Concentrated Solar Power"-Anlagen. In diesen Anlagen wird durch Sonnenenergie
Dampf erzeugt, der wie in einem normalen thermischen Kraftwerk eine Turbine antreibt, die ihrerseits mittels eines
Generators Strom erzeugt. Schon heute sind laut Fechner in Deutschland Wind- und Photovoltaik-Anlagen mit jeweils
mehr als 39 GW Leistung installiert, die benötigte Leistung schwankt zwischen 40 und 80 GW.
Schon heute beeinflussen die erneuerbaren Energien laut Fechner die Preise auf den Strommärkten erheblich
und erhöhen die Anforderungen an das Netzmanagement. Da die Kosten für Wind- und Solarenergie weiter
sinken werden, werden diese Technologien künftig die Stromerzeugung dominieren. Dies stellt die Energiewirtschaft
und ihre Energieinfrastrukturen vor große Herausforderungen. Zu deren Bewältigung sind geeignete politische
sowie regulatorische Rahmenbedingungen und neue technische sowie systemische Ansätze nötig: "Photovoltaik
und Wind benötigen eine massive Anpassung der Versorgungsstrukturen und des Energiemarktes. Gefragt ist vor
allem Flexibilität, egal, ob diese nun durch Netze, Speicher, erzeugungsseitige Maßnahmen oder Maßnahmen
bei den Verbrauchern (Demand Side Management) bereitgestellt wird."
Treiber der Energiewende
Andreas Dangl, der Vorstandsvorsitzende der WEB Windenergie AG bezeichnete Windkraft und Photovoltaik als die
"Treiber der Energiewende", die wegen des Klimwandels unverzichtbar sind. Laut Dangl werden schon bald
neue Technologien zur dezentralen Stromspeicherung weite Verbreitung finden, darunter Lithium-Ionen-Speicher. Der
finanzielle Aufwand für den Ausbau der erneuerbaren Energien ist laut Dangl "angesichts des volkswirschaftlichen
und gesellschaftlichen Mehrwerts einer ökologischen und dezentralen Energiewirtschaft" aber gerechtfertigt.
Dangl erklärte, rein technisch ließen sich Windkraftanlagen heute fast überall errichten. Aufgrund
der Dimensionen der Türme und Rotoren mit Bauhöhen von rund 200 Metern würden diese jedoch immer
häufiger emotional abgelehnt. Umso wichtiger sind laut Dangl deshalb Bürgerveranstaltungen, um allfällige
Ängste zu nehmen. Ausdrücklich bekannte sich Dangl zum Netzausbau, um die erneuerbaren Energien in das
System zur Stromversorgung zu integrieren. Die Politik müsse die Rahmenbedingungen für den Umbau der
Energieversorgung schaffen. Dazu brauche sie vor allem "mehr Mut", forderte Dangl.
"Grünere" Strommärkte
Nach Auffassung von Eva Hauser, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für ZukunftsEnergieSysteme,
Saarbrücken, tragen Photovoltaik und Windenergie dazu bei, dass die Strommärkte "grüner"
und heterogener werden. Der kurzfristige Handel, vor allem der Intraday-Handel, gewinne an Bedeutung. Dem gegenüber
nehme die Rolle des langfristigen Handels (Terminhandel) offenbar tendenziell ab. Gerade die Photovoltaik wird
laut Hauser "mittelfristig einer der wesentlichen Katalysatoren und Treiber des Wandels hin zu einem regenerativ
basierten Energiesystem" sein. Zu klären sind die Fragen der Struktur des Energiesystems und seiner Regelungsinstanzen
sowie der Refinanzierungsmechanismen für die Energie-Infrastruktur. Hauser sieht langfristige Rentabilitätsprobleme:
Gerade Photovoltaikanlagen produzierten Strom vor allem dann, wenn dieser ohnehin im Überfluss zur Verfügung
stehe, und könnten daher ihre Vollkosten über den Markt nicht decken. Laut Hauser wird sich das auch
"für die nächsten 50 Jahre nicht ändern." Noch nicht geklärt sei, ob Eigenverbrauch
und Direktvermarktung dem entgegenwirken können. Daher empfiehlt sich nach Ansicht Hausers eine Umgestaltung
des Marktdesigns. Die Wissenschaftlerin äußerte grundsätzliche Zweifel, ob die Bezeichnung "Markt"
für das System der Energieversorgung überhaupt gerechtfertigt ist: "Offenbar gewährleisten
die derzeitigen Märkte weder die Refinanzierung von Erzeugungsanlagen egal welcher Art noch die Netzstabilisierung."
Unverzichtbarer Netzausbau
Klaus Kaschnitz, Bereichsleiter Betrieb Austrian Power Grid (APG), erläuterte, die installierte Windkraft-
und Photovoltaikleistung insbesondere in Deutschland, aber auch in Österreich, habe sich binnen weniger Jahre
vervielfacht: "Wind- und Sonnenstrom sind -begünstigt durch die Förderregime in vielen Ländern
Europas -mittlerweile eine sehr relevante Größe im europäischen Strommix geworden." Damit
haben sich jedoch auch die Herausforderungen für das Systemmanagement deutlich erhöht, nicht zuletzt,
weil der Netzausbau nicht mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien Schritt hält. Der Netzentwicklungsplan
der APG sieht für die kommenden zehn Jahre Investitionen von insgesamt rund 1,4 Mrd. Euro vor. Dieses "ambitionierte
Programm" ist laut Kaschnitz "die dringend notwendige Grundlage für eine nachhaltige und sinnvolle
Integration erneuerbarer Stromerzeugung - insbesondere aus Windkraft und Photovoltaik in Österreich."
Aus der Sicht des Netzbetriebs bringt die Energiewende laut Kaschnitz vor allem folgende Herausforderung mit
sich: "Erzeugung und Verbrauch driften geografisch und zeitlich auseinander." Sei der Stromaustausch
zwischen Österreich und Deutschland noch vor wenigen Jahren vom Verbrauchsverhalten bestimmt worden, richte
er sich heute nach der Einspeisung von Ökostrom. Die Netzbetreiber müssten permanent Vorschaurechnungen
durchführen und die Netzbetriebsplanung international koordinieren, um "rund um die Uhr rechtzeitig Notmaßnahmen
einleiten zu können." Am 2. Jänner 2015 wurden laut Kaschnitz neue Import-Rekordwerte erreicht.
Dies machte umfangreiche Redispatch-Maßnahmen notwendig, um das Netz stabil zu halten. In Österreich
kamen dafür Kraftwerke mit rund 1700 Megawatt (MW) Gesamtleistung zum Einsatz, was fast der Leistung sämtlicher
großen Wasserkraftwerke an der Donau entspricht. Binnen nur zweier Jahre, von 2013 bis einschließlich
heuer, werden sich die Redispatchkosten laut Kaschnitz europaweit von weniger als 15 Mio. Euro auf über 45
Mio. mehr als verdreifachen. Dazu kommen zunehmende Schwierigkeiten, Kraftwerke für Redispatch-Maßnahmen
bereit zu halten. Immer mehr solche Anlagen würden mangels Rentabilität vorübergehend eingemottet
oder völlig geschlossen. "Das verringert natürlich die Möglichkeiten der Übertragungsnetzbetreiber,
Notmaßnahmen zu setzen", erklärte Kaschnitz.
Flexibilität steigern
Um das zeitliche Auseinanderdriften von Erzeugung und Verbrauch zu bewältigen, gibt es ihm zufolge mehrere
Möglichkeiten. Eine davon ist die aktive Verbrauchssteuerung, deren Potenzial jedoch "zumindest derzeit
viel zu gering" ist. Auch könnten in zunehmendem Ausmaß Ökostromanlagen abgeschaltet sowie
Backup-Kraftwerke errichtet werden, vor allem solche, die Erdgas als Brennstoff verwenden. Möglich ist auch
der "Ausbau von Speicherkapazitäten, etwa Pumpspeichern".
Laut Kaschnitz bleibt der Ausbau der Übertragungs- und Verteilnetze weiterhin das "Gebot der Stunde.
Bis dieser in ausreichendem Maße erfolgt ist, muss das Engpassmanagement intensiviert werden." Überdies
gelte es, die Verfügbarkeit der thermischen Kraftwerke zu gewährleisten, die für die Netzabsicherung
nötig sind. Auch das Marktdesign sollte laut Kaschnitz überdacht werden. Darüber hinaus empfiehlt
sich die "Erschließung aller Erzeugungs- und Verbrauchsstabilitäten".
Mit den Viktor-Kaplan-Lectures bieten Oesterreichs Energie und die FH Technikum Wien eine Plattform zur offenen
Diskussion über die technische sowie organisatorische Bewältigung der Umgestaltung des Energiesystems.
|