WestLicht. Schauplatz für Fotografie von 26.06. - 09.08.2015
Wien (westlicht) - Unverwechselbar und von fast schmerzlicher Intensität sind die Bilder von Mario
Giacomelli (1925-2000), einem der international bekanntesten italienischen Fotografen der Nachkriegszeit. Angeregt
durch das Kino des Neorealismo wandte sich der bis dato mit Malerei und Literatur experimentierende gelernte Schriftsetzer
und Drucker in den 1950er-Jahren der Fotografie zu und entwickelte eine höchst eigenständige, von grafischer
Abstraktion geprägte Bildsprache. Seine nahezu ausnahmslos in Serien konzipierten Arbeiten verbinden Elemente
der Reportage mit lyrischer Subjektivität und einer zeichenhaften, in ihren harten Schwarzweiß-Kontrasten
fast kalligrafischen Ästhetik. Ausgehend von den Menschen und der Landschaft seiner mittelitalienischen Heimat
verhandeln Giacomellis Bilder stets die Grundfragen der Existenz: Tod und Leben, Glaube und Liebe, das Verhältnis
des Menschen zu seinen Wurzeln, die Spuren der Zeit. Das Fotomuseum WestLicht zeigt rund 100 Fotografien aus seinen
wichtigsten Serien, von Giacomellis fotografischen Anfängen bis in die 1990er-Jahre.
Zu seinen bekanntesten Motiven zählen die Fotografien der Serie Io non ho mani che mi accarezzino il volto
(Ich habe keine Hände, die mein Gesicht streicheln, nach einem Gedicht von David Maria Turoldo), 1961-63.
Giacomelli beobachtet darin eine Gruppe von Priesteranwärtern bei ihren ausgelassenen Spielen und Albernheiten
zwischen dem Ernst ihrer Unterrichtseinheiten. Ein Bild zeigt die jungen Geistlichen, wie sie in ihren Soutanen
einen Reigen im Schnee tanzen – ein Moment der Unschuld, dem der Verlust bereits eingeschrieben ist. Der Boden
wird in der Aufnahme zu einer rein weißen Fläche ohne jegliche Zeichnung, so dass die Seminaristen als
schwarze Silhouetten wie im Nichts zu schweben scheinen.
Aus der Zeit gefallen wirken auch die Straßenszenen aus Puglia und Scanno, die Giacomelli Ende der 1950er-Jahre
fotografierte. Beide Serien zeigen eine von der Moderne weitgehend unberührte Dorfgemeinschaft. Das Archaische
des ländlichen Lebens, das in Puglia (1958) noch einen eindeutig vitalen Unterton hat, wandelt sich in den
schwarz gekleideten Figuren aus Scanno (1957/59) zu einem Bild düsterer Vorsehung.
Über mehrere Jahre, von 1954 bis 1968, kehrte Giacomelli immer wieder in das Altersheim, in dem seine Mutter
in den Tagen seiner Kindheit gearbeitet hatte, zurück, um dort zu fotografieren. Wie in allen seinen Serien
nahm er sich auch bei Verrà la morte e avrà i tuoi occhi (Der Tod wird kommen und deine Augen haben,
nach einem Gedicht von Cesare Pavese) Zeit, zu dem Ort und seinen Menschen eine Beziehung aufzubauen. Die Aufnahmen
sind geprägt durch einen harschen Realismus gegenüber dem menschlichen Verfall, das Weiß der Abzüge
scheint die fragilen Körper geradezu aufzuzehren und bekommt so eine existenzielle Qualität. Gleichzeitig
ist Giacomellis Identifikation mit den Heimbewohnern und sein stiller Zorn über das Leiden offensichtlich
und so bleiben die Alten in seinem Blick stets geborgen.
Giacomellis aus dem Flugzeug geschossene Aufnahmen des Ackerlands um seinen Geburtsort Senigallia schließlich
lösen die Felder in malerische Liniengeflechte auf und zeigen die Landschaft als eine vom Menschen und der
Zeit gezeichnete. Einerseits Ausdruck eines persönlichen Empfindens, verkörpern diese Bilder zugleich
eine klare, kühne und konzeptuell wegweisende Haltung. Giacomellis Kunst ist immer auch ein Aufbegehren gegen
die Zumutungen der menschlichen Existenz. Der bitteren Ironie der Vergänglichkeit des Lebens begegnet er mit
den Mitteln der Fotografie. Seinem singulären Stil blieb er jenseits fotografischer Moden und Aktualitäten
auch in späteren Jahren treu. In den fünf Jahrzehnten seines Schaffens entstand so ein Werk, das in seiner
ästhetischen und thematischen Konsistenz seinesgleichen sucht.
Die Fotografien der Ausstellung stammen aus der Fotosammlung OstLicht, kuratiert von Rebekka Reuter und Fabian
Knierim.
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