Verteilungseffekte der Einkommensteuerreform 2015/16
Wien (wifo) - Das WIFO hat die Auswirkungen der Steuerreform 2015/16 auf die Wertschöpfung der einzelnen
Wirtschaftssektoren mit dem ökonometrischen Input-Ouput-Modell FIDELIO geschätzt. Positive Auswirkungen
werden vor allem für den Handel, das Realitätenwesen, Finanzwesen und Verkehr geschätzt. Die Modellsimulation
liefert aber auch - entgegen den Erwartungen in der öffentlichen Diskussion -trotz Anhebung des Umsatzsteuersatzes
und Einführung der Registrierkassenpflicht auch für den Sektor "Beherbergung und Gastronomie"
mäßige Zugewinne. In der Sachgütererzeugung ergeben sich - mit Ausnahme des Nahrungsmittelbereichs
- nur geringe (positive) Effekte, in erster Linie wegen des hohen Importanteils vieler Sachgüter. Negative
Auswirkungen sind im Bereich der öffentlichen Dienstleistungen und der sonstigen nicht-marktmäßigen
Dienstleistungen zu erwarten.
Die Simulationsannahmen folgen im Wesentlichen dem "Regierungsszenario", das von einer zeitgerechten
und vollständigen Umsetzung der geplanten Gegenfinanzierungsmaßnahmen ausgeht. Durch Simulation einer
komparativ-statischen Lösung mit dem ökonometrischen Input-Ouput-Modell FIDELIO wird ein neues Gleichgewicht
der österreichischen Wirtschaft nach Abschluss der Anpassungsprozesse an die neuen Bedingungen geschätzt.
Die private Nachfrage erhöht sich demnach um knapp 2,5 Mrd. Euro (+1,4%), die Wertschöpfung um 290 Mio.
Euro (+0,1%) und das Bruttoinlandsprodukt um 1,35 Mrd. Euro (+0,4%). Die Beschäftigungswirkung wird auf +6.500
Beschäftigungsverhältnisse (+0,2%) geschätzt.
Kern der Simulationen mit FIDELIO sind allerdings die Auswirkungen auf die einzelnen Wirtschaftsbereiche. Hier
zeigt sich ein heterogenes Bild: Gemäß dem Hauptziel der Steuerreform, einer Entlastung der Lohn- und
Einkommensteuerpflichtigen, werden die stärksten positiven Effekte in Konsumbereichen mit hoher Einkommenselastizität
erwartet - Wohnungswesen, Finanzdienstleistungen sowie Verkehr und Nachrichtenübermittlung. Vor allem im Einzelhandel,
über den ein Gutteil der zusätzlichen privaten Konsumausgaben abgewickelt wird, aber auch im Handel insgesamt
(zu dem auch Großhandel und Kfz-Handel gehören) tritt der größte positive Reformeffekt auf,
der durch die Preiserhöhungen (Anhebung des begünstigten Umsatzsteuersatzes, Betrugsbekämpfung durch
Einführung der Registrierkassenpflicht) nur mäßig gedämpft wird. Entgegen den Erwartungen
in der öffentlichen Diskussion liefert die Modellsimulationen trotz Anhebung des Umsatzsteuersatzes und Einführung
der Registrierkassenpflicht auch für den Sektor "Beherbergung und Gastronomie" geringe Zugewinne,
weil die Nachfragesteigerungen infolge der Zunahme der verfügbaren Haushaltseinkommen die dämpfenden
Wirkungen aus den Preiserhöhungen mehr als wettmachen.
In der Sachgütererzeugung zeigen sich - mit Ausnahme des Nahrungsmittelbereichs - nur geringe (positive) Effekte;
in erster Linie ist dies auf den hohen Importanteil vieler Sachgüter zurückzuführen (die Modellsimulation
ergibt eine Zunahme der Importe um deutlich mehr als 1/2 Mrd. Euro, die mehrheitlich Sachgüter betrifft).
Negative Auswirkungen sind laut Modellsimulation in den öffentlichen Dienstleistungen zu erwarten. Diese umfassen
die öffentliche Verwaltung, das Gesundheits- und Sozialwesen sowie Unterricht und Erziehung. Wie sich der
Gesamteffekt auf die einzelnen Sektoren verteilt, hängt von der genauen Ausgestaltung der geplanten Einsparungen
in der Verwaltung im Ausmaß von 600 Mio. Euro ab. Ein Wertschöpfungsrückgang ergibt sich auch im
Bereich der sonstigen nicht-marktmäßigen Dienstleistungen (insbesondere für den Sektor Kultur,
Sport und Unterhaltung wegen der geplanten Einsparungen an Förderungen und Subventionen).
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Verteilungseffekte der Einkommensteuerreform 2015/16
Ein wesentliches Ziel der Steuerreform 2015/16 besteht darin, Lohn- und Einkommensteuerpflichtige spürbar
zu entlasten. Von zentraler Bedeutung ist demnach die Frage, wie sich die Steuerreform auf die Nettoeinkommen von
Personen und Haushalten auswirkt und welche Verteilungs- und Aufkommenseffekte von ihr ausgehen werden. Das WIFO
hat mit seinem Mikrosimulationsmodell die Effekte der Veränderungen im Bereich der Lohn- und Einkommensteuer
sowie der Sozialversicherungsbeitragsstruktur für das Jahr 2016 quantifiziert. Das durchschnittliche verfügbare
Haushaltseinkommen erhöht sich demnach durch die Reform um 3,1%. Der absolute und der relative Nettoeinkommenszuwachs
fallen im Allgemeinen umso höher aus, je höher das vor der Reform erzielte Nettoeinkommen ist. Das gilt
sowohl für die Erwerbs- und Pensionseinkommen als auch für die Haushaltseinkommen. Während das Nettohaushaltseinkommen
im 1. und 2. Dezil um 1,1% bzw. 1,9% steigt, ergeben sich im 7. bis 9. Dezil Nettozuwächse von 3,8% bis 4,0%.
Lediglich im Bereich der höchsten 10% fallen diese in Relation zum hohen durchschnittlichen Haushaltseinkommen
im Basisszenario ohne Steuerreform geringer aus als in den Dezilen 5 bis 9. Die Einkommensungleichheit nimmt daher
leicht zu. Haushalte mit Kindern profitieren in einem ähnlichen Ausmaß von der Reform wie Haushalte
ohne Kinder. Der simulierte Einnahmenausfall des Staates an Lohn- und Einkommensteuer beträgt rund 4,9 Mrd.
Euro. Mehr als die Hälfte (56%) davon entsteht durch die Mindereinnahmen im oberen Drittel der Verteilung
der Haushaltseinkommen, während etwa 12% dem unteren Einkommensdrittel zuzuordnen sind.
Die Modellanalyse konzentriert sich auf die Veränderungen im Bereich der Lohn- und Einkommensteuer sowie der
Sozialversicherungsbeitragsstruktur: Veränderung des Tarifverlaufs der Einkommensteuer, Neuerungen im Bereich
der Negativsteuer (Sozialversicherungserstattung), Anhebung des Kinderfreibetrages, Integration des Arbeitnehmerabsetzbetrages
in den Verkehrsabsetzbetrag und dessen Erhöhung, außerplanmäßige Anhebung der Höchstbeitragsgrundlage
in der Sozialversicherung. Andere Teile der Steuerreform, insbesondere die Maßnahmen zur Gegenfinanzierung,
werden ausgeblendet. Unter der Annahme einer vollständigen Inanspruchnahme der Negativsteuer ergibt sich insgesamt
ein Entfall an Lohn- und Einkommensteuereinnahmen von 4,9 Mrd. Euro; davon sind 85% (4,2 Mrd. Euro) auf die Änderungen
des Einkommensteuertarifs, 7% (0,4 Mrd. Euro) auf die Änderungen im Bereich der Negativsteuer und 5% (0,2
Mrd. Euro) auf die Anhebung des Kinderfreibetrages zurückzuführen. Mehr als die Hälfte (55,7%) des
Einnahmenentfalls ergibt sich durch die Steuerentlastung der Haushalte im oberen Drittel der Verteilung der äquivalisierten
Nettohaushaltseinkommen, während 32,3% dem mittleren Terzil und 12,0% dem unteren Terzil zuzuordnen sind.
Generell steigt der Nettoeinkommenseffekt der Steuerreform absolut und in Relation zum Einkommen mit der Höhe
des Nettoindividualeinkommens. Die absolute Steuerentlastung durch die Reform reicht demnach für die Gruppe
der unselbständig und selbständig Erwerbstätigen von +163 Euro für die 10% einkommensschwächsten
bis +1.957 Euro für die 10% einkommensstärksten Erwerbstätigen. Gemessen am Nettoeinkommen ist die
Entlastung im unteren Drittel der Verteilung der Nettoerwerbseinkommen geringer (zwischen 2,0% und 2,7%) als im
mittleren und oberen Drittel der Verteilung (zwischen 3,4% und 5,1%). Dieses Entlastungsmuster ergibt sich im Wesentlichen
daraus, dass aufgrund des Stufengrenzsatztarifs auch sehr hohe Einkommen von einer Senkung der Steuersätze
im unteren Bereich des Einkommensteuertarifs profitieren: Durch die Teilmengenstaffelung errechnet sich die individuelle
Steuerschuld als Summe der in den einzelnen Tarifstufen anfallenden Steuer. Für steuerpflichtige Einkommen,
die mehrere Progressionsstufen umfassen, ergibt sich deshalb mit der Herabsetzung jeder einzelnen Tarifstufe ceteris
paribus ein kumulierter Vorteil bzw. eine kumulierte Verringerung der Steuerschuld.
Die geringe Entlastungswirkung der Steuerreform im unteren Bereich der Einkommensverteilung folgt zudem aus dem
relativ hohen Anteil der geringfügig Beschäftigten sowie der Personen mit steuerpflichtigem Einkommen
unterhalb des Grundfreibetrages von 11.000 Euro. Erstere sind nicht zwingend sozialversichert und kommen daher
nur dann in den Genuss der Negativsteuer, wenn sie freiwillig Sozialversicherungsbeiträge entrichten, letztere
profitieren zwar von der Anhebung der Negativsteuer, allerdings nicht in dem Ausmaß, dass ihr Nettoeinkommen
um mehr als 1% steigen würde. Dies erklärt, warum unter den 20% einkommensschwächsten Erwerbstätigen
lediglich 56% bis 80% von der Reform betroffen sind.
Für den überwiegenden Teil der Erwerbstätigen (92%) hat die Lohn-und Einkommensteuerreform einen
Einfluss auf das Einkommen. Das jährliche simulierte Nettoerwerbseinkommen steigt durch die Reform um durchschnittlich
997 Euro bzw. 3,8%. Männer und ältere Erwerbstätige profitieren absolut und relativ zu ihrem Nettoeinkommen
stärker als Frauen und Jüngere.
Da die Pensionseinkünfte im Allgemeinen unter den Erwerbseinkommen liegen, fallen die absoluten und relativen
Nettoeinkommenszuwächse für die Mehrheit der Pensionistinnen und Pensionisten geringer aus als für
die Erwerbstätigen. Im Durchschnitt verzeichnen die Personen in dieser Gruppe eine Nettoeinkommenssteigerung
von 731 Euro (+3,0%).
Frauen sind in der unteren Hälfte der Verteilung der Erwerbs- und Pensionseinkommen überproportional
vertreten. Daher wirkt sich die Anhebung und Ausweitung der Negativsteuer stärker auf die Nettoeinkommen der
Frauen als jene der Männer aus. Unter den unselbständig Erwerbstätigen vergrößert sich
die Gruppe der Anspruchsberechtigten: Der Anteil der Frauen steigt von 23% auf 28%, jener der Männer von 10%
auf 12%. Im Durchschnitt steigen die rückerstatteten Sozialversicherungsbeiträge von 110 Euro auf 400
Euro pro Jahr.
Für Verteilungsanalysen ist die Haushaltsebene von Relevanz, weil der individuelle Lebensstandard neben dem
eigenen Einkommen üblicherweise vom Haushaltskontext, insbesondere von den gesamten Einkommensquellen des
Haushaltes und der Zahl und dem Alter der Haushaltsmitglieder abhängt. Um Haushalte unterschiedlicher Größe
und Zusammensetzung vergleichbar zu machen, wird daher das nach Konsumeinheiten gewichtete Haushaltseinkommen (Haushaltsäquivalenzeinkommen)
ermittelt. Auch in diesem Fall ist der positive Effekt der Steuerreform im Allgemeinen umso höher, je höher
das gewichtete Nettohaushaltseinkommen vor der Reform ist. Die relativ höchsten Einkommenszuwächse verzeichnen
Haushalte im 7. bis 9. Dezil der Verteilung der Nettohaushaltseinkommen. In der oberen Hälfte der Verteilung
profitieren nahezu alle Haushalte von der Reform, während im 1. und 2. Dezil der Großteil der Haushalte
nicht betroffen ist, weil hier viele Haushalte über kein oder ein nur sehr geringes Erwerbs- und/oder Pensionseinkommen
verfügen. Im Durchschnitt steigen die äquivalisierten jährlichen Nettohaushaltseinkommen um 834
Euro bzw. 3,1%. Nicht-äquivalisiert, d. h. nicht um die Haushaltsstruktur bereinigt, erhöht sich das
durchschnittliche jährliche Nettohaushaltseinkommen durch die Reform um 1.314 Euro. Wie die Simulationsergebnisse
zudem zeigen, profitieren Haushalte mit und ohne Kinder in ähnlichem Ausmaß von der Reform.
Die präsentierten Ergebnisse können nur die kurzfristigen Wirkungen der Einkommensteuerreform adäquat
berücksichtigen. Mittelfristig werden die effektiven Verteilungseffekte der Steuerreform von der konkreten
Ausgestaltung und der Wirkung der Gegenfinanzierungsmaßnahmen, dem Effekt der kalten Progression, den gesamtwirtschaftlichen
Rückkopplungseffekten sowie den Verhaltensanpassungen der Betroffenen bestimmt werden.
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