Schätzung der Auswirkungen der
 Steuerreform 2015/16 auf die Wertschöpfung

 

erstellt am
16. 06. 15
11.00 MEZ

Verteilungseffekte der Einkommensteuerreform 2015/16
Wien (wifo) - Das WIFO hat die Auswirkungen der Steuerreform 2015/16 auf die Wertschöpfung der einzelnen Wirtschaftssektoren mit dem ökonometrischen Input-Ouput-Modell FIDELIO geschätzt. Positive Auswirkungen werden vor allem für den Handel, das Realitätenwesen, Finanzwesen und Verkehr geschätzt. Die Modellsimulation liefert aber auch - entgegen den Erwartungen in der öffentlichen Diskussion -trotz Anhebung des Umsatzsteuersatzes und Einführung der Registrierkassenpflicht auch für den Sektor "Beherbergung und Gastronomie" mäßige Zugewinne. In der Sachgütererzeugung ergeben sich - mit Ausnahme des Nahrungsmittelbereichs - nur geringe (positive) Effekte, in erster Linie wegen des hohen Importanteils vieler Sachgüter. Negative Auswirkungen sind im Bereich der öffentlichen Dienstleistungen und der sonstigen nicht-marktmäßigen Dienstleistungen zu erwarten.

Die Simulationsannahmen folgen im Wesentlichen dem "Regierungsszenario", das von einer zeitgerechten und vollständigen Umsetzung der geplanten Gegenfinanzierungsmaßnahmen ausgeht. Durch Simulation einer komparativ-statischen Lösung mit dem ökonometrischen Input-Ouput-Modell FIDELIO wird ein neues Gleichgewicht der österreichischen Wirtschaft nach Abschluss der Anpassungsprozesse an die neuen Bedingungen geschätzt. Die private Nachfrage erhöht sich demnach um knapp 2,5 Mrd. Euro (+1,4%), die Wertschöpfung um 290 Mio. Euro (+0,1%) und das Bruttoinlandsprodukt um 1,35 Mrd. Euro (+0,4%). Die Beschäftigungswirkung wird auf +6.500 Beschäftigungsverhältnisse (+0,2%) geschätzt.

Kern der Simulationen mit FIDELIO sind allerdings die Auswirkungen auf die einzelnen Wirtschaftsbereiche. Hier zeigt sich ein heterogenes Bild: Gemäß dem Hauptziel der Steuerreform, einer Entlastung der Lohn- und Einkommensteuerpflichtigen, werden die stärksten positiven Effekte in Konsumbereichen mit hoher Einkommenselastizität erwartet - Wohnungswesen, Finanzdienstleistungen sowie Verkehr und Nachrichtenübermittlung. Vor allem im Einzelhandel, über den ein Gutteil der zusätzlichen privaten Konsumausgaben abgewickelt wird, aber auch im Handel insgesamt (zu dem auch Großhandel und Kfz-Handel gehören) tritt der größte positive Reformeffekt auf, der durch die Preiserhöhungen (Anhebung des begünstigten Umsatzsteuersatzes, Betrugsbekämpfung durch Einführung der Registrierkassenpflicht) nur mäßig gedämpft wird. Entgegen den Erwartungen in der öffentlichen Diskussion liefert die Modellsimulationen trotz Anhebung des Umsatzsteuersatzes und Einführung der Registrierkassenpflicht auch für den Sektor "Beherbergung und Gastronomie" geringe Zugewinne, weil die Nachfragesteigerungen infolge der Zunahme der verfügbaren Haushaltseinkommen die dämpfenden Wirkungen aus den Preiserhöhungen mehr als wettmachen.

In der Sachgütererzeugung zeigen sich - mit Ausnahme des Nahrungsmittelbereichs - nur geringe (positive) Effekte; in erster Linie ist dies auf den hohen Importanteil vieler Sachgüter zurückzuführen (die Modellsimulation ergibt eine Zunahme der Importe um deutlich mehr als 1/2 Mrd. Euro, die mehrheitlich Sachgüter betrifft).

Negative Auswirkungen sind laut Modellsimulation in den öffentlichen Dienstleistungen zu erwarten. Diese umfassen die öffentliche Verwaltung, das Gesundheits- und Sozialwesen sowie Unterricht und Erziehung. Wie sich der Gesamteffekt auf die einzelnen Sektoren verteilt, hängt von der genauen Ausgestaltung der geplanten Einsparungen in der Verwaltung im Ausmaß von 600 Mio. Euro ab. Ein Wertschöpfungsrückgang ergibt sich auch im Bereich der sonstigen nicht-marktmäßigen Dienstleistungen (insbesondere für den Sektor Kultur, Sport und Unterhaltung wegen der geplanten Einsparungen an Förderungen und Subventionen).

   

Verteilungseffekte der Einkommensteuerreform 2015/16
Ein wesentliches Ziel der Steuerreform 2015/16 besteht darin, Lohn- und Einkommensteuerpflichtige spürbar zu entlasten. Von zentraler Bedeutung ist demnach die Frage, wie sich die Steuerreform auf die Nettoeinkommen von Personen und Haushalten auswirkt und welche Verteilungs- und Aufkommenseffekte von ihr ausgehen werden. Das WIFO hat mit seinem Mikrosimulationsmodell die Effekte der Veränderungen im Bereich der Lohn- und Einkommensteuer sowie der Sozialversicherungsbeitragsstruktur für das Jahr 2016 quantifiziert. Das durchschnittliche verfügbare Haushaltseinkommen erhöht sich demnach durch die Reform um 3,1%. Der absolute und der relative Nettoeinkommenszuwachs fallen im Allgemeinen umso höher aus, je höher das vor der Reform erzielte Nettoeinkommen ist. Das gilt sowohl für die Erwerbs- und Pensionseinkommen als auch für die Haushaltseinkommen. Während das Nettohaushaltseinkommen im 1. und 2. Dezil um 1,1% bzw. 1,9% steigt, ergeben sich im 7. bis 9. Dezil Nettozuwächse von 3,8% bis 4,0%. Lediglich im Bereich der höchsten 10% fallen diese in Relation zum hohen durchschnittlichen Haushaltseinkommen im Basisszenario ohne Steuerreform geringer aus als in den Dezilen 5 bis 9. Die Einkommensungleichheit nimmt daher leicht zu. Haushalte mit Kindern profitieren in einem ähnlichen Ausmaß von der Reform wie Haushalte ohne Kinder. Der simulierte Einnahmenausfall des Staates an Lohn- und Einkommensteuer beträgt rund 4,9 Mrd. Euro. Mehr als die Hälfte (56%) davon entsteht durch die Mindereinnahmen im oberen Drittel der Verteilung der Haushaltseinkommen, während etwa 12% dem unteren Einkommensdrittel zuzuordnen sind.

Die Modellanalyse konzentriert sich auf die Veränderungen im Bereich der Lohn- und Einkommensteuer sowie der Sozialversicherungsbeitragsstruktur: Veränderung des Tarifverlaufs der Einkommensteuer, Neuerungen im Bereich der Negativsteuer (Sozialversicherungserstattung), Anhebung des Kinderfreibetrages, Integration des Arbeitnehmerabsetzbetrages in den Verkehrsabsetzbetrag und dessen Erhöhung, außerplanmäßige Anhebung der Höchstbeitragsgrundlage in der Sozialversicherung. Andere Teile der Steuerreform, insbesondere die Maßnahmen zur Gegenfinanzierung, werden ausgeblendet. Unter der Annahme einer vollständigen Inanspruchnahme der Negativsteuer ergibt sich insgesamt ein Entfall an Lohn- und Einkommensteuereinnahmen von 4,9 Mrd. Euro; davon sind 85% (4,2 Mrd. Euro) auf die Änderungen des Einkommensteuertarifs, 7% (0,4 Mrd. Euro) auf die Änderungen im Bereich der Negativsteuer und 5% (0,2 Mrd. Euro) auf die Anhebung des Kinderfreibetrages zurückzuführen. Mehr als die Hälfte (55,7%) des Einnahmenentfalls ergibt sich durch die Steuerentlastung der Haushalte im oberen Drittel der Verteilung der äquivalisierten Nettohaushaltseinkommen, während 32,3% dem mittleren Terzil und 12,0% dem unteren Terzil zuzuordnen sind.

Generell steigt der Nettoeinkommenseffekt der Steuerreform absolut und in Relation zum Einkommen mit der Höhe des Nettoindividualeinkommens. Die absolute Steuerentlastung durch die Reform reicht demnach für die Gruppe der unselbständig und selbständig Erwerbstätigen von +163 Euro für die 10% einkommensschwächsten bis +1.957 Euro für die 10% einkommensstärksten Erwerbstätigen. Gemessen am Nettoeinkommen ist die Entlastung im unteren Drittel der Verteilung der Nettoerwerbseinkommen geringer (zwischen 2,0% und 2,7%) als im mittleren und oberen Drittel der Verteilung (zwischen 3,4% und 5,1%). Dieses Entlastungsmuster ergibt sich im Wesentlichen daraus, dass aufgrund des Stufengrenzsatztarifs auch sehr hohe Einkommen von einer Senkung der Steuersätze im unteren Bereich des Einkommensteuertarifs profitieren: Durch die Teilmengenstaffelung errechnet sich die individuelle Steuerschuld als Summe der in den einzelnen Tarifstufen anfallenden Steuer. Für steuerpflichtige Einkommen, die mehrere Progressionsstufen umfassen, ergibt sich deshalb mit der Herabsetzung jeder einzelnen Tarifstufe ceteris paribus ein kumulierter Vorteil bzw. eine kumulierte Verringerung der Steuerschuld.

Die geringe Entlastungswirkung der Steuerreform im unteren Bereich der Einkommensverteilung folgt zudem aus dem relativ hohen Anteil der geringfügig Beschäftigten sowie der Personen mit steuerpflichtigem Einkommen unterhalb des Grundfreibetrages von 11.000 Euro. Erstere sind nicht zwingend sozialversichert und kommen daher nur dann in den Genuss der Negativsteuer, wenn sie freiwillig Sozialversicherungsbeiträge entrichten, letztere profitieren zwar von der Anhebung der Negativsteuer, allerdings nicht in dem Ausmaß, dass ihr Nettoeinkommen um mehr als 1% steigen würde. Dies erklärt, warum unter den 20% einkommensschwächsten Erwerbstätigen lediglich 56% bis 80% von der Reform betroffen sind.

Für den überwiegenden Teil der Erwerbstätigen (92%) hat die Lohn-und Einkommensteuerreform einen Einfluss auf das Einkommen. Das jährliche simulierte Nettoerwerbseinkommen steigt durch die Reform um durchschnittlich 997 Euro bzw. 3,8%. Männer und ältere Erwerbstätige profitieren absolut und relativ zu ihrem Nettoeinkommen stärker als Frauen und Jüngere.

Da die Pensionseinkünfte im Allgemeinen unter den Erwerbseinkommen liegen, fallen die absoluten und relativen Nettoeinkommenszuwächse für die Mehrheit der Pensionistinnen und Pensionisten geringer aus als für die Erwerbstätigen. Im Durchschnitt verzeichnen die Personen in dieser Gruppe eine Nettoeinkommenssteigerung von 731 Euro (+3,0%).

Frauen sind in der unteren Hälfte der Verteilung der Erwerbs- und Pensionseinkommen überproportional vertreten. Daher wirkt sich die Anhebung und Ausweitung der Negativsteuer stärker auf die Nettoeinkommen der Frauen als jene der Männer aus. Unter den unselbständig Erwerbstätigen vergrößert sich die Gruppe der Anspruchsberechtigten: Der Anteil der Frauen steigt von 23% auf 28%, jener der Männer von 10% auf 12%. Im Durchschnitt steigen die rückerstatteten Sozialversicherungsbeiträge von 110 Euro auf 400 Euro pro Jahr.

Für Verteilungsanalysen ist die Haushaltsebene von Relevanz, weil der individuelle Lebensstandard neben dem eigenen Einkommen üblicherweise vom Haushaltskontext, insbesondere von den gesamten Einkommensquellen des Haushaltes und der Zahl und dem Alter der Haushaltsmitglieder abhängt. Um Haushalte unterschiedlicher Größe und Zusammensetzung vergleichbar zu machen, wird daher das nach Konsumeinheiten gewichtete Haushaltseinkommen (Haushaltsäquivalenzeinkommen) ermittelt. Auch in diesem Fall ist der positive Effekt der Steuerreform im Allgemeinen umso höher, je höher das gewichtete Nettohaushaltseinkommen vor der Reform ist. Die relativ höchsten Einkommenszuwächse verzeichnen Haushalte im 7. bis 9. Dezil der Verteilung der Nettohaushaltseinkommen. In der oberen Hälfte der Verteilung profitieren nahezu alle Haushalte von der Reform, während im 1. und 2. Dezil der Großteil der Haushalte nicht betroffen ist, weil hier viele Haushalte über kein oder ein nur sehr geringes Erwerbs- und/oder Pensionseinkommen verfügen. Im Durchschnitt steigen die äquivalisierten jährlichen Nettohaushaltseinkommen um 834 Euro bzw. 3,1%. Nicht-äquivalisiert, d. h. nicht um die Haushaltsstruktur bereinigt, erhöht sich das durchschnittliche jährliche Nettohaushaltseinkommen durch die Reform um 1.314 Euro. Wie die Simulationsergebnisse zudem zeigen, profitieren Haushalte mit und ohne Kinder in ähnlichem Ausmaß von der Reform.

Die präsentierten Ergebnisse können nur die kurzfristigen Wirkungen der Einkommensteuerreform adäquat berücksichtigen. Mittelfristig werden die effektiven Verteilungseffekte der Steuerreform von der konkreten Ausgestaltung und der Wirkung der Gegenfinanzierungsmaßnahmen, dem Effekt der kalten Progression, den gesamtwirtschaftlichen Rückkopplungseffekten sowie den Verhaltensanpassungen der Betroffenen bestimmt werden.

 

 

 

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