Wien (wifo) - Nachdem das Wirtschaftswachstum in Österreich im Durchschnitt der letzten 20 Jahre über
jenem von Deutschland und über dem Durchschnitt des Euro-Raumes lag, zeigt sich seit 2014 ein deutlicher Rückstand.
Das seit einigen Jahren niedrige Wirtschaftswachstum und die Stagnation der Industrieproduktion weisen auf Strukturschwächen
hin, die eine rasche wirtschaftspolitische Reaktion erfordern. Sie treten jedoch nicht durch einen Vergleich mit
dem nahen Ausland zutage: Ein Vergleich zwischen Österreich, Deutschland und dem Euro-Raum hinsichtlich der
Entwicklung der Industrieproduktion, der Lohnstückkosten in der Industrie, der Arbeitsmarktperformance und
der Inflation lässt keinerlei Rückstand Österreichs zu diesen Wirtschaftsräumen erkennen. In
Deutschland sorgt eine konsumgetriebene Sonderkonjunktur für eine stärkere Dynamik, die aber kaum auf
Österreich ausstrahlt. Zusätzlich treibt die späte Konjunkturerholung der Länder an der EU-Peripherie
seit kurzem das Wachstum im Durchschnitt des Euro-Raumes an, der deshalb die Entwicklung in Österreich übertrifft.
Österreichs Wirtschaftsleistung wird sich heuer bereits das vierte Jahr in Folge um weniger als 1% erhöhen.
Die Arbeitslosenquote erreichte nach nationaler Definition jüngst den höchsten Stand seit den 1950er-Jahren,
und die Inflationsrate ist eine der höchsten im Euro-Raum. Auch in Umfragen zur internationalen Standortqualität
fällt Österreich immer weiter zurück.
Immer öfter wird die Frage nach einem möglichen Verlust des Wachstumsvorsprunges gestellt, den Österreich
in den vergangenen zwei Jahrzehnten phasenweise gegenüber dem übrigen Euro-Raum und auch gegenüber
Deutschland aufwies. Zwar scheint es angesichts des in den letzten Jahren schleppenden Wachstums wenig zweifelhaft,
dass Strukturschwächen zu den Ursachen zählen, jedoch lassen sie sich nicht durch einen Vergleich mit
Deutschland oder dem Euro-Raum insgesamt belegen. Insbesondere war 2014, als erstmals ein deutlicher Rückstand
gegenüber beiden Wirtschaftsräumen zu verzeichnen war, keine ruckartige Verschlechterung der Wirtschaftsstruktur
zu beobachten, durch die sich der Wachstumsvorsprung in einen Rückstand gedreht haben könnte.
Seit 2014 scheint der ökonomische Gleichklang zwischen der Wirtschaftsentwicklung in Deutschland und Österreich
zuungunsten Österreichs verlorengegangen zu sein. Er beruhte bislang allerdings weniger auf der Bedeutung
der deutschen Wirtschaft für Österreich per se, sondern zu einem wesentlichen Teil auf der gemeinsamen
Reaktion beider Volkswirtschaften auf einen internationalen Konjunkturzyklus. Die aktuelle Dynamik in Deutschland
rührt hingegen von einem Wiedererstarken der Binnenkonjunktur, von der die österreichische Wirtschaft
auch in der Vergangenheit kaum profitierte. Die Industrieproduktion, die häufig zur Beurteilung der internationalen
Wettbewerbsfähigkeit herangezogenen wird, entwickelt sich aufgrund der schwachen Auslandsnachfrage ähnlich
schleppend wie in Österreich. Auch die Entwicklung der Lohnstückkosten in der Industrie der beiden Länder
deutet auf keine relative Verschlechterung der heimischen Wettbewerbsfähigkeit hin. Die diesbezügliche
Stagnation seit dem Jahr 2012 ist dennoch ein deutlicher Hinweis auf mögliche Strukturschwächen, die
rasche wirtschaftspolitische Reaktionen erfordern.
Der aktuelle Wachstumsrückstand gegenüber dem Durchschnitt des Euro-Raumes lässt sich neben der
Bedeutung Deutschlands für diesen Wirtschaftsraum auch durch die verspätete Konjunkturerholung in den
Peripherieländern erklären: Nach der Rezession 2008/09 und der anschließenden Phase der Stagnation
bzw. des weiteren Rückganges der Wirtschaftsleistung ist in Spanien, Irland und Portugal seit 2014 erstmals
eine Erholung zu beobachten. Den Aufholprozess und die Schließung der durch die Krise aufklaffenden Produktionslücke
hatte die Industrie in Deutschland und Österreich 2011 abgeschlossen, sogar rascher als in den USA. Das weist
auf eine auch nach der Krise noch angemessene Wirtschaftsstruktur hin. Aufgrund dieser unterschiedlichen Stellung
im Konjunkturzyklus sind Aussagen über möglicherweise erfolgte Strukturveränderungen, die allein
auf einem Vergleich von BIP-Veränderungsraten basieren, jedoch wenig hilfreich.
Die Arbeitslosenquote sank in Deutschland kürzlich auf den niedrigsten Stand seit über 20 Jahren, zugleich
stieg sie in Österreich auf den höchsten Wert seit den 1950er-Jahren. Diese Divergenz lässt sich
überwiegend auf demographische Besonderheiten in Deutschland zurückführen: Während das Arbeitskräfteangebot
in Deutschland bis 2011 sank und danach nur leicht stieg, nahm es in Österreich kontinuierlich zu. Wie die
für die Beurteilung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit wesentlich aussagekräftigere Beschäftigungsentwicklung
zeigt, wurden in Österreich in den letzten Jahren trotz niedrigen Wachstums sogar relativ mehr Stellen geschaffen
als in Deutschland. Allerdings waren dies in geringerem Ausmaß Vollzeitstellen, sodass das Arbeitsvolumen
in Deutschland stärker zunahm.
Der positive Abstand der österreichischen Inflationsrate gegenüber Deutschland und dem Durchschnitt des
Euro-Raumes scheint ebenfalls nicht Ausdruck mangelnden Wettbewerbes auf internationalen Märkten zu sein,
sondern ist eher auf mangelnden Wettbewerb im Bereich der nichthandelbaren, nur lokal angebotenen Dienstleistungen
wie Wohnen und Telekommunikation oder Gaststättenwesen und auf den Anstieg administrierter Preise zurückzuführen.
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