Wien (universität) - Ändert sich die Umwelt rasch, dann bilden bestehende genetische Variationen eine
bessere Ausgangsbasis für evolutionäre Anpassungen als spontane Neumutationen. Das zeigen jetzt veröffentlichte
Berechnungen aus einem Projekt des Wissenschaftsfonds FWF. Darin wurden genetische Anpassungen im Laufe der Evolution
mit zwei unterschiedlichen Modellen untersucht, und es konnte gezeigt werden, dass diese einander nicht gegenseitig
ausschließen müssen.
Umweltveränderungen wie der Klimawandel zwingen zahlreiche Arten sich weltweit anzupassen. Das ist gut dokumentiert
und wird umfangreich studiert. Dennoch ist bisher wenig über die genetische Basis solcher Anpassungsprozesse
bekannt. Nun bringen die Biomathematiker Joachim Hermisson und Sebastian Matuszewski von der Universität Wien
sowie Michael Kopp von der Universität Marseille mehr Licht ins Dunkel der Evolution.
Evolution als Modell
Ausgangspunkt der komplexen mathematischen Berechnungen des Teams waren zwei grundsätzlich unterschiedliche
Modelle zur Beschreibung von Evolution. Geht das erste Modell davon aus, dass eine Anpassung auf Grundlage von
Mutationen erfolgt, die erst im Anschluss an eine Umweltveränderung auftreten, so läuft die Evolution
laut dem zweiten Modell auf Basis bereits vorher existierender genetischer Variationen. Deren Selektion würde
dann durch einen Wandel begünstigt werden. "Wir sind der Ansicht, dass diese beiden Modelle sich nicht
grundsätzlich ausschließen müssen – unsere Berechnungen zeigen eher, dass sie einander ergänzen.
Entscheidend dafür sind die Größe und Geschwindigkeit einer Umweltveränderung. Diese beiden
Faktoren haben einen maßgeblichen Einfluss darauf, inwieweit bereits existierende oder neue genetische Variationen
die Anpassung an Umweltveränderungen erlauben", sagt Hermisson.
Rascher Wandel
Mit ihren Berechnungen analysierte das Team jedoch nicht nur die Größe und Geschwindigkeit einer Umweltveränderung,
sondern auch die Größe der einzelnen Mutationsschritte, die eine Populations-Anpassung auf Basis bestehender
genetischer Variationen am besten fördert. Dazu Hermisson: "Unsere analytischen Näherungsverfahren
und Simulationen zeigten, dass es vor allem sich rasch ändernde Umweltbedingungen sind, die eine Anpassung
auf Grundlage vorhandener genetischer Variationen begünstigen." Der "Trick" sei, dass die Anpassung
dann durch viele kleine genetische Änderungen erfolge, die alle für sich genommen nur einen geringen
Unterschied machen, in Summe aber doch eine große Anpassung an sich zügig verändernde Lebensumstände
ermöglichen. Bei raschen Veränderungen der Umwelt, so meint Hermisson, können sich solche Populationen
dann auch quasi stetig und parallel mit der Umweltveränderung fortentwickeln. So gelingt es diesen Populationen
leichter, größere Anpassungen durchzuführen als jenen, die auf eine spontane Neumutation "warten"
müssen. Dabei kann die Auswirkung einer einzelnen Neumutation zwar durchaus drastisch sein, langfristig gelingt
durch das Zurückgreifen auf zahlreiche kleine, existierende Mutationen aber doch eine größere Anpassung.
Methodisches Vorgehen
Für die notwendigen Berechnungen und Simulationen musste das Forscherteam zunächst zwei neue analytische
Modelle schaffen. Das erste basiert auf der Annahme, dass die weitere Entwicklung einer einzelnen neuen Mutation
völlig unabhängig von anderen bereits in der Population vorhandenen Mutationen erfolgt. Im zweiten Modell
hingegen ist die Entwicklung jeder neuen Mutation stark von den bereits vorhandenen genetischen Variationen abhängig.
Es zeigt sich, dass oft nur das komplexere zweite Modell den Anpassungsprozess korrekt beschreibt: Die bereits
existierende genetische Vielfalt ist von entscheidender Bedeutung.
Mathematischer Artenschutz
Insgesamt sind die mithilfe dieser neuen Modelle gewonnenen Erkenntnisse insbesondere auch vor dem Hintergrund
des Klimawandels wichtig. Denn dieser verlangt zahlreichen Arten ein rasches Anpassen ab. Zu verstehen, welche
Mechanismen diese Anpassungen auf ökologischer und genetischer Basis beeinflussen, ist von entscheidender
Wichtigkeit, um die dramatischen Auswirkungen des Klimawandels auf einzelne Arten vorherzusehen – und ihnen vielleicht
sogar entgegenzuwirken. Die Ergebnisse dieses FWF-Projekts leisten dazu nun einen grundlegenden Beitrag.
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