Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat vor Populismus in der Flüchtlingskrise
gewarnt und eine gemeinsame europäische Lösung angemahnt.
Brüssel (ec) - "Natürlich gibt es nicht nur eine und erst recht keine einfache Antwort auf
die Migrationsströme. Genauso wie es wenig realistisch wäre, zu denken, dass wir die Grenzen Europas
gegenüber allen Nachbarn einfach öffnen könnten, ist es wirklichkeitsfremd, zu glauben, dass wir
sie gegenüber Not, Angst und Elend abriegeln könnten", schrieb Juncker in einem Meinungsartikel
für die Montagsausgabe der "Welt" (24.08.). "Eines aber ist klar: Es gibt keine wirksamen nationalen
Lösungen. Kein Mitgliedsstaat kann Migration wirksam allein regeln. Wir brauchen einen starken europäischen
Ansatz. Und zwar jetzt."
Die Kommission begrüßt das heutige Treffen von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident
François Hollande, um die gemeinsame Europäische Migrationsagenda voranzubringen. Bereits im Mai hatte
die Kommission detaillierte Vorschläge für eine gemeinsame Asyl- und Flüchtlingspolitik vorgelegt.
Dazu gehören Sofortmaßnahmen für die Seenotrettung im Mittelmeer ebenso wie ein europäisches
Umsiedlungsprogramm, um die Herausforderung der Fluchtbewegungen aus Kriegs- und Krisengebieten wie Syrien, Libyen,
Irak oder Eritrea solidarisch zu bewältigen.
Gleichzeitig will Juncker die Mitgliedstaaten auf eine einheitliche Linie zur Migration aus den Westbalkan-Staaten
bringen. "Bereits vor neun Jahren hat die Kommission eine Liste sicherer Herkunftsländer vorgeschlagen.
Die große Mehrheit der Regierungen hat dies damals als Einmischung in ihre Kompetenzen zurückgewiesen.
Es ist aber unlogisch, dass die Mitgliedstaaten beschließen, die westlichen Balkanstaaten zu Beitrittskandidaten
zu machen, sie aber nicht zugleich als sicher einstufen. Deshalb wird die Kommission den Mitgliedstaaten im September
eine gemeinsame Liste sicherer Herkunftsländer vorlegen", schrieb Juncker.
"Was wir brauchen und was uns noch fehlt, ist die kollektive Courage, um europäisches Recht und unsere
Verpflichtungen gegenüber den Menschen einzuhalten – auch wenn sie nicht einfach und sicherlich oft nicht
populär sind. Stattdessen sehe ich, wie mit dem Finger auf andere gezeigt wird – ein Schwarzer-Peter-Spiel
an Schuldzuweisungen, mit dem man vielleicht Aufmerksamkeit oder Stimmen gewinnen kann, aber keine Probleme löst."
Europa habe die höchsten Asylstandards der Welt. "Niemals würden wir Menschen wegschicken, wenn
sie unseren Schutz brauchen. Das ist in unseren Gesetzen und Verträgen festgeschrieben. Ich mache mir allerdings
Sorgen, dass das immer weniger in unseren Herzen verankert ist. Wenn wir über Migration sprechen, dann sprechen
wir über Menschen, über Menschen wie Sie und mich – außer dass diese Menschen nicht so wie Sie
und ich leben können, weil sie nicht das Glück hatten, in einer der reichsten und einer der stabilsten
Regionen der Welt geboren zu sein", so Juncker.
"Es bereitet mir Sorgen, wenn ich die Ablehnung eines Teils der Bevölkerung gegenüber diesen Menschen
sehe. In Brand gesetzte Flüchtlingslager, zurückgedrängte Boote, Gewalt gegen Asylbewerber oder
nur das Wegschauen bei Not und Hilfsbedürftigkeit – das ist nicht Europa. Es bereitet mir Sorgen, wenn Politiker
von weit rechts und weit links einen Populismus nähren, der nur Groll, aber keine Lösungen hervorbringt.
Hasstiraden und unbesonnene Äußerungen, die eine unserer größten Errungenschaften – die Reisefreiheit
im Schengen-Raum und die Überwindung von Grenzen in seinem Inneren – in Gefahr bringen. Das ist nicht Europa.
Europa, das sind aber Gott sei Dank auch die Rentner in Calais, die Generatoren vorbeibringen, damit Flüchtlinge
ein bisschen Musik hören und ihre Handys laden können. Europa, das sind auch die Studenten in Siegen,
die ihren Campus für Asylbewerber öffnen. Europa, das ist auch der Bäcker im griechischen Kos, der
sein Brot an die hungrigen und ermatteten Menschen verteilt. Das ist das Europa, in dem ich leben will."
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