Wien (wifo) - Die Länder der Europäischen Union befinden sich in einer instabilen Erholungsphase.
2015 dürfte das Wirtschaftswachstum mit ungefähr 1,5% deutlich unter dem der USA oder dem der Weltwirtschaft
bleiben. Im Gegensatz zu den USA ist das Wachstum in Europa nach wie vor zu gering, um eine Trendumkehr der Arbeitslosigkeit
zu bewirken. In der EU konzentriert sich die Expansion auf jene Länder, die eine robuste Inlandsnachfrage
aufweisen. In Ostmitteleuropa expandiert die Wirtschaft wesentlich stärker als in den anderen EU-Ländern.
Zuletzt entwickelte sich die Wertschöpfung im Euro-Raum trotz der erneuten Zuspitzung der Staatsschuldenkrise
Griechenlands etwas günstiger. Den aktuellen Daten zufolge stieg das reale BIP im I. Quartal 2015 gegenüber
dem Vorquartal um 0,4% und im II. Quartal um 0,3%. Im weiteren Jahresverlauf 2015 ist gemäß den jüngsten
Daten eine mäßige Zunahme zu erwarten. Der Ausblick wird jedoch durch die strukturbedingte Wachstumsschwäche
in vielen Schwellenländern getrübt. Dies spiegelt sich auch in verschiedenen Vorlaufindikatoren.
Im Gegenzug zu den USA kein Wachstum im Euro-Raum seit 2008
Im Euro-Raum entwickelt sich die Wirtschaft seit 2008 enttäuschend. Das reale BIP lag Ende 2014 etwa auf
dem Niveau des Jahres 2008. Seit dem Ausbruch der Finanzmarktkrise stagniert das BIP damit (Übersicht 1).
Im Gegensatz dazu wuchs die Volkswirtschaft der USA - des Landes, von dem die weltweite Finanzmarktkrise ausgegangen
war - deutlich (+11,0%). In den einzelnen Euro-Ländern ist die Situation teilweise noch ungünstiger.
So stieg die italienische Wirtschaftsleistung seit der Einführung des Euro im Jahr 1999 um nur 4% (+0,25%
pro Jahr), am schwächsten innerhalb des Euro-Raumes; Griechenland verzeichnete in den 16 Jahren einen Zuwachs
von knapp 5%.
In der EU lag die Arbeitslosenquote im II. Quartal 2015 mit knapp 10% noch deutlich über dem Vorkrisenniveau.
In den USA entwickelte sich der Arbeitsmarkt hingegen deutlich besser, die Arbeitslosenquote entspricht derzeit
etwa dem Vorkrisenwert.
Der enttäuschende Konjunkturverlauf in der EU ist u. a. die Folge vieler Ungleichgewichte. Dies zeigt sich
nicht nur auf den Arbeits-und Gütermärkten, sondern auch in einer zunehmenden Divergenz innerhalb der
EU-Länder und der Euro-Länder. So war entgegen den Erwartungen seit der Einführung der gemeinsamen
Währung 1999 keine Konvergenz der Realwirtschaft in den Ländern der Währungsunion zu verzeichnen,
sondern nach anfänglicher Angleichung und einem Rückgang der Zinssätze gemessen an verschiedenen
Indikatoren sogar eine Divergenz (BIP pro Kopf, Arbeitslosenquote, Wachstumsrate usw.). Relativ günstig verlief
hingegen die Entwicklung in Ostmitteleuropa.
Langfristiger Aufholprozess aus den 1990er-Jahren seit 2008 gestoppt
Der Aufholprozess der europäischen Wirtschaft gegenüber den USA war in den letzten 50 Jahren beachtlich.
Seit der Finanzmarktkrise kam er jedoch zum Stillstand. Somit ergibt sich im Vergleich zu den USA eine zunehmende
Divergenz. Bereits vor der Finanzmarktkrise kam der bis dahin rasche Aufholprozess der EU bezüglich Produktivität
und BIP pro Kopf zum Stillstand (Übersicht 2): Hatte das BIP pro Kopf in der EU 1990 64,1% des Niveaus in
den USA betragen, so stieg es bis zum Jahr 2008 auf knapp über 65%. 2014 lag es mit knapp 62% unter dem Wert
aus dem Jahr 1990.
EU verfehlt selbstgesteckte Ziele
Der Wachstumsrückstand der EU-Länder gegenüber den USA hängt mit mehreren Faktoren zusammen,
und zwar insbesondere solchen, die für die Expansion von hochentwickelten Volkswirtschaften entscheidend sind
(Forschungsquote, Anteil der Spitzenuniversitäten, Innovationen, Anteil der Start-ups, hohe Dynamik von Neugründungen).
Die EU verfehlt auch eigene Ziele, wie die Halbzeitevaluierung der Strategie "Europa 2020" gezeigt hat,
und forciert nicht die bestehenden Stärken, wie etwa den Vorsprung hinsichtlich Energieeffizienz, Einsatz
erneuerbarer Energie und Umwelttechnologien. Diese Erkenntnis bewirkte jedoch keine Kursänderung, ein gravierendes
Versäumnis der Wirtschaftspolitik. Allein der erste Punkt der Strategie "Europa 2020" - die Erhöhung
der Beschäftigungsquote der Bevölkerung zwischen 20 und 64 Jahren von derzeit 69% auf mindestens 75%
- erscheint in Anbetracht der prekären Arbeitsmarktsituation in der EU in absehbarer Zeit unerreichbar. Auch
die Anhebung der F&E-Quote auf 3% des BIP ist aus heutiger Sicht unrealistisch, obwohl vor allem sie zur Verbesserung
der Bedingungen für F&E-Investitionen sowie für die Investitionen im Privatsektor im Allgemeinen
wichtig wäre. Dies sind u. a. Gründe für deutlich pessimistischere langfristige Prognosen für
die EU als für die USA und andere Wirtschaftsregionen.
Um die Wirtschaftsentwicklung im Euro-Raum sowie in der EU insgesamt entscheidend zu beleben, erscheinen einige
Faktoren unerlässlich:
- makroökonomische Stabilität und vor allem eine Finanzpolitik, die Zukunftsinvestitionen
forciert und die Abgaben besonders auf den Faktor Arbeit senkt,
- ein hohes Maß an Flexibilität auf den Gütermärkten und in
einigen Länder auch auf dem Arbeitsmarkt,
- günstige Rahmenbedingungen für eine effiziente volkswirtschaftliche
Nutzung der Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit, durch die das Wachstum der totalen Faktorproduktivität
unterstützt wird,
- eine effiziente Energie- und Ressourcennutzung sowie
- ein aktiverer Einsatz nationaler Politikinstrumente zur Vermeidung von Boom-Bust-Zyklen
von Vermögenspreisen und Kreditzinssätzen.
Der neue Europäische Investitionsfonds hat das Potential, die Investitionsschwäche zu mildern; er sollte
sich auf immaterielle Investitionen, Energieeffizienz und der Verbesserung der Ausbildung konzentrieren. Der Zukunftsoptimismus
sollte durch Erarbeitung einer Strategie "Europa 2030" gestärkt werden - hiefür liefert das
WIFO im Rahmen des internationalen Projektes "WWWforEurope" gemeinsam mit 33 Partnern die analytischen
Grundlagen.
Die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise hat gezeigt, dass der Zufluss umfangreicher Kapitalströme in einkommensschwache
Länder nur dann zu einer nachhaltigen Entwicklung beiträgt, wenn die Ressourcen effizient verteilt werden.
Entscheidend ist deshalb, das Potentialwachstum durch nachhaltige Ressourcenallokation zu erhöhen. Das sollte
jedoch nicht durch Fortschreiben eines schuldenfinanzierten Wachstumsmodells mit allfälliger Rückendeckung
der Geldpolitik geschehen. Nötig sind Schritte, um die Produktivität sowie soziale Innovationen zu fördern
und die bereits vorhandene Stärke der Umwelttechnologien weiter auszubauen.
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