Ein internationales Forschungsteam entreißt die Ostfront des Ersten Weltkriegs dem Vergessen
Wien (bik) - Der Krieg in Osteuropa brachte völlig andere Kriegserfahrungen mit sich als jene an der
West- oder Italienfront und dies hatte entscheidende Auswirkungen auf die in der Zwischenkriegszeit diskutierten
Bilder vom "Osten". Das ist das klare Ergebnis eines am Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung
in Graz durchgeführten und vom Wissenschaftsfonds FWF finanzierten Projekts, in dem die persönlichen
Erlebnisse österreichisch-ungarischer Soldaten an der Ostfront analysiert wurden.
Schützengräben und erstarrte Fronten – diese beiden Metaphern formen bis heute die Vorstellung vom Ersten
Weltkrieg. Wolfram Dornik weiß, dass dies eine zu einseitige Perspektive ist: "Diese Bilder stammen
vor allem von der damaligen Westfront – dem Fokus des deutsch-, französisch- und englischsprachigen Blicks
auf den Ersten Weltkrieg vor und nach 1918. Mit unserem mehrjährigen FWF-Projekt konnten wir diesen einseitigen
Blick maßgeblich ergänzen." Ein wesentliches Fazit der umfangreichen Studie: Der Krieg an der Ostfront
war weniger entmenschlicht und industrialisiert und viel dynamischer.
Weites Land
Schon die äußeren Umstände bewirkten diese Unterschiede: Deutlich länger als jene gegen Frankreich
oder Italien war die Ostfront, und damit auch viel schwieriger zu befestigen. Kampfhandlungen erfolgten oft unmittelbarer
oder an wenigen schwer gesicherten Orten. Frontabschnitte verschoben sich regelmäßig. Gleichzeitig gab
es im Gegensatz zur Westfront lange Kampfpausen, was für die Soldaten oft den Eindruck einer "ruhigeren"
Front mit sich brachte, insbesondere bei jenen, die von der Isonzo- oder der Alpenfront kamen. Doch fehlte es auch
in Osteuropa nicht an riesigen Schlachten mit hunderttausenden Toten, Verwundeten oder Kriegsgefangenen. Die Folge
dieser militärischen Dynamik: Riesige besetzte Gebiete der gegnerischen Nationen. In diesen führten die
Vielsprachigkeit und die unterschiedlichen religiösen Ausprägungen zu heftigen Reaktionen der Beteiligten.
Dazu Dornik: "Speziell Soldaten, die aus einer homogenen Gesellschaft im westlichen Teil der Habsburgermonarchie
kamen, reagierten darauf sehr sensibel. Misstrauen, Unverständnis und Gewalt gegenüber Zivilisten waren
das Ergebnis." Dabei konnte das Forschungsteam die Verstärkung von Antisemitismus, Antislawismus und
anderen radikalen Diskursmustern feststellen. "In der Tat," so meint Dornik, "hatte dies entscheidenden
Einfluss auf den Diskurs über den 'Osten' in den Jahren zwischen den Weltkriegen. Der Einfluss osteuropäischer
Kriegserfahrungen habsburgischer Soldaten auf die zentraleuropäische Gesellschaft darf aus diesem Grund nicht
unterschätzt werden."
Widrige Witterung und harte Natur
Neben den zwischenmenschlichen Erlebnissen hinterließ aber auch die Natur einschneidende Erinnerungen bei
den Soldaten. Hier dominierten lange Winter mit schweren Schneefällen, verschlammte oder schlecht ausgebaute
Straßen, weite Ebenen und schier endlose Wälder, riesige Sümpfe und hohe Gebirge. Organisationstalent
der Armeeführung war hier genauso gefordert wie physische und psychische Belastbarkeit der Soldaten. Gleichzeitig,
so Dornik, weckte der geradezu endlos wirkende Raum des "Ostens" auch bei einfachen Soldaten koloniale
Fantasien.
Multinationale Perspektiven
Grundlage der Erkenntnisse dieses Projekts waren von Soldaten selbst erzeugte schriftliche und bildliche Quellen:
Fotos, Tagebücher und Notizen sowie Erinnerungen. Dieser Zugang machte besondere Anstrengungen notwendig,
wie Dornik ausführt: "Sowohl das Russische wie auch das Habsburger Reich waren multilinguale Gesellschaften.
Unsere Quellen lagen also in vielen Sprachen vor – wir konnten mit über 20 Expertinnen und Experten aus Mittel-
und Osteuropa diese Vielfalt bewältigen." Das Forschungsteam musste auch die fragmentierten historiographischen
Traditionen und Erinnerungskulturen von fast einem Jahrhundert überbrücken, um ein gemeinsames Diskussionsfeld
zu schaffen. Denn nach dem Zerfall der großen Reiche nach 1917/18 dominierte der neue Staatsgründungsmythos.
Hier überlagerten der Kampf gegen das vorherige Reich und die noch größere, folgende Katastrophe
– der Zweite Weltkrieg und die Shoa – die Erinnerung an die "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts.
Wie sehr sich diese Mühen lohnten, konnte das Team schon zur Mitte des Projekts mit der Publikation des Sammelbandes
"Jenseits des Schützengrabens" zeigen. In dem international viel beachteten Buch konnten erste Ergebnisse
zusammengefasst werden. Für Dornik ein guter und wichtiger Zwischenschritt des mittlerweile mit weiteren Veröffentlichungen
beendeten Projekts.
Zur Person
Der Historiker Wolfram Dornik forscht am Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung. Er ist
Mitinitiator des "Forum: Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg" sowie von 2011–2015 wissenschaftlicher
Leiter des "Museum im Tabor" in Feldbach; mit September 2015 übernimmt er die Leitung des Grazer
Stadtarchivs. Einige seiner zahlreichen Forschungsschwerpunkte sind Aspekte des Ersten Weltkriegs, Kriegsgefangenschaft,
Erinnerung und Gedächtnis, Museologie sowie Steirische Regionalgeschichte.
Publikation
Jenseits des Schützengrabens. Der Erste Weltkrieg im Osten: Erfahrung – Wahrnehmung – Kontext, B. Bachinger,
W. Dornik (Hg.), 2013, Studienverlag Ges.m.b.H. ISBN 978-3-7065-5249-3.
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