Wien (oj) - In dem diesjährigen Viennale-Eröffnungsfilm „Carol“ (USA 2015) porträtiert
Regisseur Todd Haynes frei nach Patricia Highsmith die Begegnung zweier Frauen im New York der 50er Jahre. Und
obwohl Carol (Cate Blanchet) und Therese (Rooney Mara) aus ganz unterschiedlichen Milieus stammen, so wagen sie
dennoch eine gemeinsame Flucht, um der zum Scheitern verurteilten Liebe eine Chance zu geben.
Raúl Perrone nimmt in „La Mecha“ (Argentinien 2004) ein kaputtes Teil eines alten Heizkörpers
zum Anlass für eine genauere Auseinandersetzung mit der argentinischen Krise von 2001 und ihren Folgen für
die Gesellschaft. Arbeitslosigkeit, Inflation und Perspektivenmangel prägen den Alltag. Aussichtslos ist auch
die Reise ins Blaue, die der Pensionist Niceforo unternimmt, um es zu Hause wieder warm zu haben.
In „Nefesim kesilene kadar“ (TR/D 2015) stellt Emine Emel Balci diejenigen in den Mittelpunkt, die in der
türkischen Gesellschaft allzu oft übergangen werden – Frauen. Genauer gesagt – Fabrikarbeiterinnen. Serap
ist eine von ihnen. Sie ist im Waisenhaus aufgewachsen und möchte nun mit ihrem Vater, der wegen Schmuggel
all die Jahre im Gefängnis war, ein neues Leben anfangen. Dieser scheint sich jedoch vielmehr für seine
dubiosen Geschäfte zu interessieren und verkörpert das Unerreichbare in Seraps Leben.
Amos Gitai setzt sich 20 Jahre nach dem Mord an Israels Premierminister Yitzhak Rabin in dem Film „Rabin, the
Last Day“ (Israel/F 2015) mit der verlorenen Chance auf eine friedliche Lösung des Konflikts zwischen
Israelis und Palästinensern auseinander. Gitai stellt jedoch nicht nur die politischen, und nicht zuletzt
sicherheitstechnischen, Umstände des Attentats dar, sondern ergänzt die narrative Ebene durch zahlreiche
Archivaufnahmen von den Verhandlungen um das Oslo-Abkommen.
Damit die spanische Kirche seine Daten nicht verwenden kann, beschließt ein 30-jähriger Mann seinen
Austritt „El apóstata“ (E/F/Uruguay 2015) ist der Philosophie-Student Gonzalo, den Regisseur Federico
Veiroj vor eine schlicht kafkaeske Aufgabe stellt, denn das Vorhaben scheitert schon an der Frage, ob das Taufverzeichnis
eine Datenbank ist oder nicht. Dazu kommt noch Gonzalos Beziehung zu zwei Frauen, von denen die eine seine Kusine
ist und die andere nicht noch einmal alles aufs Spiel setzen möchte.
Das Drehbuch zu „Une histoire américaine“ F 2015) haben Filmemacher Armel Hostiou und Hauptdarsteller
Vincent Macaigne gemeinsam geschrieben. Es ist eine Tragikomödie vom Feinsten, in der ein etwas tollpatschiger
Franzose seiner Geliebten nach New York folgt, weil er sie wiedererobern möchte. Vincent lässt sich auch
nicht von der Tatsache abschrecken, dass Barbara bereits einen neuen Lebensabschnitt mit einer neuen Liebe begonnen
hat. Er ist felsenfest davon überzeugt, dass sie „Ja“ sagen wird, wenn er erst einmal die Gelegenheit hat,
um ihre Hand anzuhalten.
Thomas McCarthy geht mit „Spotlight“ (USA 2014/15) auf die Recherchearbeit der Enthüllungsjournalisten
des Boston Globe ein, die einen Artikel über Missbrauchsfälle in der Katholischen Kirche vorbereiten.
McCarthy zeigt hier wie verantwortungsvoller Journalismus funktioniert, aber auch verantwortungsvolles Filmemachen.
Denn mehr als durch Fakten belegt ist, wird auch im Film nicht erzählt.
„Anderswo“ (D/Israel 2014) ist Ester Amramis Abschlussarbeit an der Filmuniversität Konrad Wolf in
Berlin. Sie ist, ähnlich wie ihre Hauptfigur aus dem Israel nach Deutschland gezogen, um dort zu studieren.
Und dennoch ist der Film keine Autobiographie. Er zeigt vielmehr das Gefühl des Dazwischenstehens, der fehlenden
Zugehörigkeit nicht nur im Ausland, sondern aufgrund der langen Abwesenheit auch in der Heimat. Noa lebt in
Berlin, sie hat einen deutschen Freund, schreibt an ihrer Dissertation und sehnt sich dennoch zurück zu ihrer
Familie. Ihr behütetes Zuhause hat sich jedoch inzwischen auch verändert und so schwebt sie zwischen
zwei Welten, der alten und der neuen, dem Dort und dem Hier.
In dem Dokumentarfilm „Counting“ (USA 2015) zeigt Jem Cohen in 15 Kapiteln Eindrücke aus Großstädten
auf der ganzen Welt. Es ist eine Collage aus Bild und Ton. Cohen griff beim Schnitt auf sein reiches Privatarchiv
mit Aufnahmen aus den letzten zehn Jahren zurück. Es sind Szenen aus dem Alltagsleben der Städtebewohner,
Impressionen eines Flaneurs.
Auch Nicolas Azalbert begibt sich auf eine Reise. In „La Braise les cendres“ (F/Argentinien/ CH/RUS/Mongolei
2015) dokumentiert er seine Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn. Der Zug ist eine altbekannte Metapher für
das Kino, das Abteilfenster für die Kinoleinwand. Und dennoch hat diese Reise für Azalbert eine zweite
Bedeutung. Es ist der letzte Teil einer Trilogie, in der sich der Filmemacher mit dem Ende einer Beziehung auseinandersetzt.
Es ist eine lineare Reise und doch scheint man sich manchmal im Kreis zu drehen oder man bleibt an einer roten
Ampel im Regen stehen. Genauso wie auf der Leinwand.
Auch Nanni Morettis „Mia madre“ (I 2014) ist autobiographisch inspiriert. Darin setzt sich der Regisseur
mit seiner Trauer nach dem Tod der Mutter auseinander, die während der Dreharbeiten zu „Habemus Papam“ (2011)
starb. Sie war, wie die Mutter der Hauptfigur im Film, Latein- und Griechisch-Lehrerin. Morettis Held ist jedoch
eine Frau, die versucht die Verantwortung für die kranke Mutter und ein chaotisches Filmprojekt zu vereinen.
Der unverwechselbare John Turturro als völlig untalentierter Hollywoodschauspieler Barry Huggins zeigt überspitzt
die witzigen Seiten eines Filmdrehs.
„Moonlight“ (GB 1982) drehte Jerzy Skolimowski kurz, nachdem in Polen der Kriegszustand ausgerufen worden
war. Er porträtiert die triste Realität von fünf polnischen Schwarzarbeitern, die bei der Renovierung
eines Londoner Hauses innerhalb eines Monats so viel verdienen wollen, dass sie mit ihren Familien in Polen ein
Jahr lang davon leben können. Während sie jedoch nichts ahnend ihrer Arbeit nachgehen, werden die Telefonverbindungen
unterbrochen und Flüge nach Polen gestrichen. Nur einer von ihnen, Nowak, weiß bescheid.
„Last Shelter“ (A 2015) von Gerald Igor Hauzenberger bezieht sich auf die Besetzung der Votivkirche durch
eine Gruppe von Flüchtlingen im Winter 2012/13. Die Kirche bietet den muslimischen Männern Zuflucht in
einer ausweglos erscheinenden Situation. Kurz vor der Abschiebung wollen sie auf die Ungerechtigkeiten im Asylgesetz
aufmerksam machen.
Jakob Brossmann zeigt in „Lampedusa im Winter“ (A/I/CH 2015) die Mittelmeerinsel und ihre Probleme aus der
Perspektive ihrer Einwohner. Die Kamera begleitet einige von ihnen nicht nur bei der Unterstützung von Flüchtlingen,
sondern auch bei der Arbeit und bei politischen Versammlungen. Im Film wird Lampedusa mit Europa verglichen - klein
und von der Außenwelt abgeschottet.
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