Neujahrsansprache von Bundespräsident Heinz Fischer
Wien (hofburg) - Anläßlich der traditionellen Rede zum Jahreswechsel appellierte Bundespräsident
Heinz Fischer an die Österreicherinnen und Österreicher, auch 2016 Zuversicht, Hilfsbereitschaft und
Verantwortungsgefühl zu zeigen, trotz Flüchtlingskrise und wirtschaftlicher Unsicherheit. Hier seine
letzte Rede als Bundespräsident – seine Amtszeit endet im April diesen Jahres – im Wortlaut:
Guten Abend, meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ein Blick auf das gerade zu Ende gegangene Jahr 2015 zeigt, dass dieses Jahr für Europa und auch für
Österreich eines der Schwierigsten der vergangenen Jahrzehnte gewesen ist.
Die Griechenlandkrise ist zwar aus den Schlagzeilen verdrängt worden, aber deshalb noch nicht wirklich überwunden.
Der Konflikt um die Ukraine kommt einer Lösung – wenn überhaupt – nur millimeterweise näher.
Und der Krieg in Syrien – aber auch andere Konflikte in dieser Region – haben nicht nur ein entsetzliches Ausmaß
an Toten und schwer verletzten Menschen, sondern auch ein dramatisches Ansteigen der Flüchtlingszahlen zur
Folge, was beträchtliche Probleme verursacht.
Als die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel in dieser Situation im vergangenen September drei einfache Worte
aussprach, nämlich „Wir schaffen das“, da reagierte ein Teil der Menschen innerhalb und außerhalb von
Deutschland ermutigt, ein anderer Teil erstaunt und ein dritter empört.
„Wie kann sie das nur sagen?“ tönte es aus verschiedenen Richtungen. Und es gab den banalen Vorschlag zur
Lösung der Flüchtlings-Problematik, welcher lautet: „Man soll einfach den Hahn zudrehen und die Grenzen
dicht machen“.
Aber durch diesen Hahn, den man zudrehen soll, fließt kein Wasser und auch kein Öl, sondern ein Strom
von Menschen.
Und jeder Flüchtling ist ein Mensch. Und der Mensch ist nun einmal etwas Besonderes und Einzigartiges und
nicht ein Gegenstand oder eine Ware.
Den Hahn einfach zudrehen hieße vergessen, was in Menschenrechtsdokumenten steht, was in der Bibel steht
und auch in der Kunst immer wieder eindringlich zum Ausdruck gebracht wird: Nämlich, dass wir für unsere
Mitmenschen auch Mitverantwortung tragen.
Und dass die Menschenwürde universell und unteilbar ist.
Das heißt nicht, dass ein Staat, eine Gemeinde oder ein einzelner Mensch mehr aufgebürdet bekommen soll,
als zumutbar ist. Und es heißt auch nicht, dass man die Sorgen und Ängste von Menschen beiseiteschieben
darf, die einer solchen Situation ratlos und angsterfüllt gegenüberstehen.
Es heißt aber, dass wir verpflichtet sind, uns diesen Aufgaben mit vereinten Kräften zu stellen und
an Lösungen zu arbeiten.
Denn gemeinsame solidarische Anstrengungen können sehr viel bewirken.
Genau das drücken die Worte „WIR schaffen das“ aus.
Und viele Menschen, viele karitative Einrichtungen, viele Institutionen in unserem Land und in anderen Ländern
- einschließlich Bundesheer und Polizei - haben ja auch genau in diesem Sinn gehandelt. Dafür möchte
ich mich heute einmal mehr sehr herzlich bedanken.
Aber vieles ist noch zu tun.
Es geht um eine stärkere Unterstützung der internationalen Flüchtlingsorganisationen in den Krisengebieten,
um eine besser organisierte Kontrolle der Außengrenzen der EU,
aber auch um eine gerechtere Verteilung der Lasten in und zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union.
Und es geht vor allem um die Beendigung von Krieg und Gewalt und auch darum, dem Terror die Basis zu entziehen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Wir dürfen und wollen aber auch positive Entwicklungen nicht übersehen.
Der internationalen Gemeinschaft ist es im vergangenen Jahr nach schwierigen Verhandlungen gelungen, einen Vertrag
mit dem Iran zu erarbeiten, der die Entwicklung von Atomwaffen im Iran verhindert. Ich halte dieses Verhandlungsergebnis
für außerordentlich wertvoll.
Auch an Lösungen für den Syrien Konflikt wird jetzt endlich intensiv gearbeitet.
Und es ist im Dezember in Paris gelungen ein globales Klimaabkommen abzuschließen, das eine Grundlage – nicht
mehr aber auch nicht weniger – für eine verantwortungsvolle Klimapolitik geschaffen hat.
Auch bei uns in Österreich ist es – trotz unserer Sorgen über das zu niedrige Wirtschaftswachstum – gelungen
in einigen wichtigen Bereichen gute Lösungen zu finden: Heute, am 1. Jänner 2016, tritt z.B. eine Steuerreform
in Kraft, die in der Lage sein sollte, die Kaufkraft im Land anzukurbeln.
Die Lebensqualität in Österreich ist international geradezu sprichwörtlich, unser Gesundheitssystem
hoch entwickelt.
Liebe Österreicherinnen und Österreicher!
Wir blicken in unserem Land jetzt auf sieben Jahrzehnte einer insgesamt sehr erfreulichen Entwicklung seit dem
Ende des Zweiten Weltkrieges zurück. Das ist im menschlichen Leben eine lange Zeit.
Kein Wunder, dass sich in diesen sieben Jahrzehnten Rahmenbedingungen verändert haben, bisher Bewährtes
überholt erscheint und neue Technologien unser Leben stark beeinflussen. Auch unsere politischen Strukturen
verändern sich.
Das ist auch in anderen europäischen Ländern zu beobachten und löst bei vielen Menschen Unsicherheit
und Zukunftsängste aus.
Das Falscheste, was wir in dieser Situation tun könnten, wäre einen Außenfeind oder einen kollektiven
Sündenbock zu suchen und alles in düsteren Farben zu sehen.
Vertrauen wir – ich zitiere Robert Musil – nicht nur auf den Wirklichkeitssinn, sondern auch auf den Möglichkeitssinn.
Niemand soll Österreich unterschätzen – und wir selbst am aller wenigsten.
Als jemand, der persönlich miterlebt hat, was unser Land in den Jahren nach 1945 alles zustande gebracht hat,
bin ich zuversichtlich, dass wir auch in den kommenden Jahren viel mehr zustande bringen werden als uns manche
zutrauen. Und zwar durch Leistung - in Verbindung mit sozialer Gerechtigkeit.
Auf Österreich ist Verlass!
Im Sinne dieser Zuversicht wünsche ich Ihnen, liebe Österreicherinnen und Österreicher – und allen,
die mit uns in diesem schönen Land leben – ein gutes und friedvolles Jahr 2016!
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