Wien (universität) - Bisher dachte man, dass alle Australopithecinen gut angepasst waren an das harte Zubeißen
und Öffnen von Nüssen und Samenkörnern mit ihren großen Mahlzähnen. Der chronologisch
gesehen jüngste Vertreter, Australopithecus sediba, der auf ca. zwei Millionen Jahre datiert wurde, scheint
aber diesen Anpassungspfad bereits verlassen zu haben: Er weist kleinere Zähne auf als seine Verwandten. Ein
internationales ForscherInnenteam unter Beteiligung von Gerhard Weber von der Universität Wien konnte zeigen,
dass weder Kiefer noch Zähne an eine harte Nahrung angepasst waren. Dies gelang mit Hilfe einer biomechanischen
Computersimulation, die virtuelle Kopien der Australopithecinen-Schädel nutzt.
"Die meisten Australopithecinen zeigen erstaunliche Anpassungen ihrer Kiefer, Zähne und Gesichter, die
ihnen erlaubten, Nahrung zu erschließen, die sehr schwer zu öffnen oder zu kauen war. Unter anderem
konnten sie sehr effizient enorme Beißkräfte entwickeln", sagt Teamleiter David Strait von der
Washington University in St. Louis/USA. "Australopithecus sediba wird von einigen Forschern mit der Entstehung
unserer Gattung Homo in Zusammenhang gebracht", erzählt der noch junge Erstautor der Studie, Justin Ledogar
von der University of New England in Australien, "aber wir haben herausgefunden, dass er bezüglich seiner
Beißfähigkeiten starke Einschränkungen hatte: Bei festem Zubeißen hätte er sich den
Kiefer ausgerenkt".
Die Studie beschreibt biomechanische Tests von Computermodellen des Australopithecus sediba und anderen Hominiden,
Schimpansen inklusive. Der originale fossilisierte Schädel, der 2008 in Malapa nahe Johannesburg in Südafrika
gefunden wurde, konnte mit Hilfe der Computer-Tomographie digitalisiert werden. Dann wurden ähnliche Verfahren
angewandt wie jene, die Ingenieure nutzen um Flugzeuge, Autos oder Maschinenteile auf ihre Festigkeit oder Verformbarkeit
zu testen.
"Virtuelle Anthropologie" ermöglicht Herstellung von Computermodellen
"Die traditionellen Methoden der Anthropologie mit Gleitzirkel und Messglas wurden längst abgelöst
durch die Verfahren der 'Virtuellen Anthropologie', bei der dreidimensionale Daten von Objekten mit ausgefeilten
mathematisch-statistischen Methoden analysiert werden", erklärt Gerhard Weber vom Department für
Anthropologie der Universität Wien, einer der Pioniere der in den letzten 15 Jahren entstandenen Forschungsrichtung.
Weber und sein Team an der Universität Wien arbeiten seit einiger Zeit eng mit dem amerikanischen Team zusammen.
Ihre Aufgabe ist die Herstellung von virtuellen Fossil-Modellen, die dann den weiteren digitalen biomechanischen
Experimenten ausgesetzt werden können. Auch die in Wien entwickelten Methoden zur Vermessung der Geometrie
von Schädeln und anderen Objekten werden in dieser Studie eingesetzt, um z.B. die Stichprobe von Vergleichsschädeln
auf einige wenige zu reduzieren, nämlich jene, die die größtmögliche Gestaltvariation aufweisen.
Das ist notwendig, weil die biomechanische Simulation technisch sehr aufwendig ist und nur mit wenigen Objekten
anstatt mit großen Samples durchgeführt werden kann.
"Ernährung als Schlüssel zum Evolutionsverständnis"
Australopithecinen tauchen in der Fossilgeschichte vor ca. vier Millionen Jahren auf. Obwohl sie bereits einige
menschliche Merkmale haben, wie die Fähigkeit aufrecht auf zwei Beinen zu gehen, fehlen ihnen andere charakteristische
Eigenschaften – wie ein großes Gehirn, ein flaches Gesicht mit kleinen Kiefern und Zähnen, und der erweiterte
Gebrauch von Werkzeugen. Heutige Menschen der Gattung Homo sind mit großer Wahrscheinlichkeit Abkömmlinge
eines australopithecinen Vorfahren. Australopithecus sediba ist einer der Kandidaten, der entweder unser direkter
Ahne war oder zumindest einem solchen ähnlich. Die neue Studie beschäftigt sich zwar nicht direkt mit
der Frage, ob Australopithecus sediba ein sehr naher evolutionärer Verwandter von Homo war oder nicht, aber
sie liefert weitere Hinweise dafür, dass Ernährung im Kontext evolutionärer Anpassungen ein bedeutender
Faktor war.
"Homo, und besonders wir moderne Menschen, haben relativ gesehen einen sehr kleinen Kauapparat, weil wir uns
auf weichere und energiereichere Nahrung umgestellt haben, und auch Verfahren zur Zubereitung entwickelt haben",
erklärt Weber weiter. "Ein guter Anteil von Fleisch in der Ernährung und die Zerkleinerung mit Hilfe
von Werkzeugen und schließlich das Kochen von Nahrung machte einen mächtigen Kauapparat überflüssig".
Die evolutionären Strategien gingen also in der Zeit der Entstehung von Homo auseinander. Während der
eine Zweig von Australopithecinen noch mächtigere Kiefer und Zähne entwickelte, reduzierte der andere
Zweig (Homo) diese Merkmale und entwickelte ein größeres Gehirn und fortschrittlicheren Werkzeuggebrauch.
Ob Australopithecus sediba hier eine ausgestorbene Variante darstellt oder zu uns führt, ist noch unklar,
aber er zeigt immerhin, dass auch bei manchen Australopithecinen ein Reduktionstrend bemerkbar ist. Obwohl Australopithecus
sediba wohl gelegentlich noch sehr harte Nahrung zu sich nahm (das zeigen einige Spuren an den Zähnen), war
er sicher nicht mehr gut angepasst daran, dauerhaft hohe Beißkräfte zu entwickeln. Interessanterweise
zeigt er auch eine weiter entwickelte fingerfertige Hand. "Vielleicht ein Hinweis darauf, dass dieser späte
Australopithecine schon recht häufig Werkzeuge benutzte, um seine Nahrung aufzuschließen", spekuliert
Weber abschließend.
Fördergeber
Diese Arbeit wurde gefördert von NSF BCS 0725219, 0725183, 0725147, 0725141, 0725136, 0725126, 0725122, 0725078
and NSF DBI 0743460, the EU FP6 Marie Curie Actions MRTN-CT-2005-019564 ‘EVAN’, the South African Department of
Science and Technology, the African Origins Platform, the South African National Research Foundation, the Evolutionary
Studies Institute, the Palaeontological Scientific Trust, the Andrew W. Mellon Foundation, the United States Diplomatic
Mission to South Africa, the National Geographic Society, the A.H. Schultz Foundation, the Oppenheimer and Ackerman
families, Sir Richard Branson and the Program to Enhance Scholarly and Creative Activities, and the International
Research Travel Award Grant of Texas A&M University.
Publikation in "Nature Communications"
Mechanical evidence that Australopithecus sediba was limited in its ability
to eat hard foods. Ledogar, J.A., Smith, A.L., Benazzi, S., Weber, G.W., Spencer, M.A., Carlson, K.B., McNulty,
K.P., Dechow, P.C., Grosse, I.R., Ross, C.F., Richmond, B.G., Wright, B.W., Wang, Q., Byron, C., Carlson, K.J.,
de Ruiter, D.J., Berger, L.R., Tamvada, K., Pryor, L.C., Berthaume, M.A., Strait, D.S., Nature Communications am
8. Februar 2016,
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