Salzburg (universität) - Am 1. Jänner 2015 jährte sich zum 20. Mal der Beitritt Österreichs
zur Europäischen Union. Eine Rückschau auf den Integrationsprozess und einen Ausblick auf die Konsequenzen
für Österreich bietet der Sammelband „20 Jahre EU-Mitgliedschaft Österreichs“. Der Salzburger Europarechtler
Stefan Griller und der Salzburger Öffentlichrechtler Benjamin Kneihs sind zwei der vier Herausgeber des im
Verlag Österreich erschienenen Handbuchs, in dem über 40 ExpertInnen rechtswissenschaftliche, politikwissenschaftliche
und wirtschaftswissenschaftliche Analysen liefern.
So groß die Begeisterung der Österreicher beim Beitritt zur EU vor 20 Jahren war - 66,6 Prozent stimmten
1994 für die EU Mitgliedschaft - so abgekühlt ist sie inzwischen. Laut dem aktuellen Eurobarometer-Länderbericht
vertrauen nur noch 26 Prozent der Österreicher der EU. Der Ruf der Europäischen Union leidet unter den
aktuellen Krisen.
Die EU ist heute nicht mehr dieselbe wie zur Zeit des österreichischen Beitritts. Maastricht, Amsterdam, Nizza,
Lissabon – die nach diesen Städten benannten Verträge sowie die Osterweiterung im Jahr 2004 mit der annähernden
Verdopplung der Mitgliedstaaten von 15 auf 28 sind Meilensteine in der rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen
Entwicklung der Integration. Am augenfälligsten für die Bürger war die Einführung des Euro
in der Wirtschafts- und Währungsunion im Jahr 2002. Auf eine Schönwetterperiode folgte 2008 die globale
Finanz- und Wirtschaftskrise, die das Euro-Projekt auf eine sehr harte Probe stellte. Die Krisenentwicklung und
Krisenbewältigung sowie der EU-Reformbedarf werden in einem zentralen Abschnitt des Sammelbandes vom Europarechtler
Stefan Griller skizziert.
Aber das Buch hat einen viel umfassenderen Anspruch, was schon seine Selbstbezeichnung andeutet: Zusammen mit Arno
Kahl und Walter Obwexer aus Innsbruck haben Stefan Griller und Benjamin Kneihs das eintausendzweihundert Seiten
umfassende „Handbuch“ „20 Jahre EU Mitgliedschaft Österreichs. Auswirkungen des Unionrechts auf die nationale
Rechtsordnung aus rechtswissenschaftlicher, politikwissenschaftlicher und wirtschaftswissenschaftlicher Sicht“
herausgegeben, das so gut wie alle wichtigen Fragen und vielfältigen Entwicklungen aufarbeitet.
Was sind die Eckpfeiler des 20 jährigen Integrationsprozesses? Wie sind die Beziehungen zwischen der EU und
Österreich im Verfassungsverbund? Welche Bedeutung hat das Unionsrecht für die österreichische Gesetzgebung,
die Verwaltung und die Gerichtsbarkeit? Inwiefern hat die Union unsere Sozial-, Umwelt-, Wirtschafts- oder Bildungspolitik
verändert? Solche Sachbereiche werden analysiert.
Über allem steht die Frage: Was brachte die EU-Mitgliedschaft? Österreich ist derzeit das fünftreichste
Land der EU. Die EU-Integrationseffekte haben Österreich – verglichen mit dem Alternativszenario ohne EU-Mitgliedschaft
– ein deutliches Wachstumsplus verschafft (0,6 Prozent des realen BIP pro Jahr), meint etwa der Ökonom Fritz
Breuss von der Wirtschaftsuniversität Wien. Die anhaltende Eurokrise und die Krisen in Osteuropa (Ukraine-Krise)
haben die Wirtschaftsaussichten für Österreich allerdings deutlich eingetrübt. Der EU-Wachstumsbonus
läuft aus, konstatiert Breuss.
Nicht verschwiegen werden in dem Sammelband auch Schwierigkeiten, die der EU-Beitritt für Österreich
zum Beispiel im Bildungsbereich brachte. Die wachsende Mobilität der Studierenden und der Zustrom junger Leute
aus anderen EU-Ländern überforderte Österreich mit seinen vorhandenen Kapazitäten, wie der
Innsbrucker Europarechtler Walter Obwexer nachzeichnet. Eine Konsequenz aus der Misere war die Einführung
der Medizinerquote, die Anfang 2017 neuerlich auf dem Prüfstand der EU-Kommission stehen wird, mit der nach
wie vor nicht völlig abgewendeten Drohung eines Vertragsverletzungsverfahrens im Hintergrund.
Vom ersten Tag an untrennbar mit der Beitrittsdiskussion verbunden war das heikle Thema der in der österreichischen
Verfassung festgeschriebenen „immerwährenden Neutralität“, die mit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik
der EU nicht vereinbar scheint. Den pragmatischen Wandel des österreichischen Neutralitätsverständnisses
– manche sprechen von einer „bemerkenswerten Beweglichkeit dieses identitätsstiftenden Mythos“ - nimmt u.a.
der Verfassungsrechtler Theo Öhlinger unter die Lupe. Die dauernde Neutralität als Verfassungsinstrument
habe sich in eine politische Maxime verwandelt, stellt er fest. Ob Österreich völkerrechtlich noch an
seine Neutralitätserklärung gebunden ist, sei dahingestellt. Die Salzburger Völker- und Europarechtlerin
Kirsten Schmalenbach verweist darauf, dass 20 Jahre nach dem EU Beitritt vor kurzem erstmalig die Solidaritätserwartung
eines anderen EU Mitgliedstaats an Österreich herangetragen worden ist. Nach den verheerenden Terrorattacken
von Paris am 13. November 2015 wurde auf Ansuchen Frankreichs die Beistandsklausel erstmals in der Geschichte der
Union aktiviert. „Gegen Terror gibt es keine Neutralität“, mit dem Satz kommentierte der damalige Verteidigungsminister
Gerald Klug Österreichs Haltung.
Publikation: Stefan Griller, Arno Kahl, Benjamin Kneihs, Walter Obwexer (Hrsg): 20 Jahre EU-Mitgliedschaft
Österreichs. Auswirkungen des Unionsrechts auf die nationale Rechtsordnung aus rechtswissenschaftlicher, politikwissenschaftlicher
und wirtschaftswissenschaftlicher Sicht. Verlag Österreich 2015, ISBN 978-3-7046-7286-5
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